Zwei Tage in Berlin

Florian Klenk
Versendet am 11.05.2022

Ich schreibe Ihnen dieses Maily während einer Verschnaufpause, aus dem Mauerpark in Berlin. An der Ecke Bernauer Straße hat die Stadtverwaltung eine kleine Gedenkstelle errichtet. Auf Schautafeln kann jeder sehen, wie es hier vor nicht einmal 33 Jahren in der DDR ausgesehen hat: Panzerigel, Soldaten mit Schießbefehl, nach Osten winkende Berliner auf Aussichtsplattformen. Wo ein Todesstreifen den Westen vom Osten trennte, dreht heute ein Mädchen auf Rollschuhen Pirouetten, treten Hipster ihr Lastenrad. 

Ich bin oft in Berlin und gebe zu, dass mich diese Mauer-Gedenkorte immer wieder berühren – vor allem das Mauer-Diorama von Yadegar Asisi. Jedem Kind zeigt die Installation, wohin totalitäres Denken führt: in Menschenverachtung, Mord und Krieg. 

Ich wurde tags zuvor von einer anderen Berliner Gedenkstelle eingeladen, dem "Haus der Wannseekonferenz". Ich durfte als österreichischer Vertreter an einer ganz besonderen Lesung teilnehmen: Hier, in dieser Villa, in der die Nazis die "Endlösung", also die staatlich organisierten Judenmorde, beschlossen, trugen wir in Erinnerung an die Bücherverbrennungen aus den Werken vertriebener oder ermordeter Autoren vor.  

Da saßen wir im mondänen Park dieses Anwesens. Ich las aus einem abenteuerlichen Werk des Reporters Richard Arnold Bermann, einem Wegbegleiter von Karl Kraus. Eine Kollegin trug Gerichtsreportagen der Berliner Reporterin Gabriele Tergit vor, die eindringlich zeigten, wie sich Richter in den 30ern rassistisch radikalisierten. Plötzlich spielte jüdisches "Blut" eine Rolle. 

Was sich in Berlin wie ein Gedenk-Ritual in Friedenszeiten anfühlte, wie eine ritualisierte Erinnerung an die längst überwunden geglaubte totalitäre Zeit, war doch beklemmend aktuell. 

Vor der Lesung sprach Irina Scherbakowa, die Chefin der mittlerweile von Wladimir Putin verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, über Russland und Putins Krieg in der Ukraine. 1989 wurde der Gedenkverein von den Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion gegründet. Mikhail Gorbatschow ließ das zu. 

Memorial sprach damals auf einmal über die von Stalin vertuschten Massengräber, auf denen die Villen der Bonzen standen. Memorial öffnete die Archive des Schreckens und sah dies als grundlegendes Menschenrecht. Memorial schöpfte damals Hoffnung, allerdings nur bis zum Beginn von Putins tschetschenischem Krieg. 

"Da begann das Wegschauen des Westens", erzählt Scherbakowa. Und auch in Russland wirkten die Leute am Gedenken desinteressiert. "Die Müdigkeit", so formuliert es Scherbakowa, "die kam von unten". Und die Müdigkeit kam auch aus der intellektuellen Szene, die die Erinnerung als verkommenes Ritual abtat. "Russland wurde derweil zum Täterland, regiert von einem mafiösen, korrupten Regime". Und Österreich, sagte Scherbakowa, machte vor Putin buchstäblich einen Knicks.  

Ich aß nach der Lesung den bei einem koscheren Buffet gereichten Pudding. Ich blickte über den See und verstand auf einmal, warum Gedenkstätten so unglaublich wichtig sind.

Ihr Florian Klenk


Aus Dem Falter 1

Ein ganz besonderes Gespräch finden Sie im aktuellen FALTER. Der Starautor Daniel Kehlmann unterhält sich da mit dem Autor und Kabarettisten Florian Scheuba. Die beiden sprechen über Antifaschismus und Pazifismus, über Waffenlieferungen an die Ukraine, Übungen des Zorns und die Pflicht der Intellektuellen zur politischen Position. Angeleitet haben das Gespräch Eva Konzett und Nina Horaczek.


Aus Dem Falter 2

Ein weiteres Interview, das Sie sich diese Woche nicht entgehen lassen sollten, ist jenes mit dem Politologen und Russland-Experten Gerhard Mangott. Er erzählt, wie Russland ihn als Informanten anwerben wollte und wie seine persönlichen Treffen mit Wladimir Putin abgelaufen sind.


Falter Morgen

Marienthal kannte man die längste Zeit wegen "seiner Arbeitslosen", jetzt gibt es dort keinen einzigen Langzeitarbeitslosen mehr. Beim Arbeitsmarktexperiment "Magma" bietet das AMS den Menschen in der Region Gramatneusiedl nämlich eine Jobgarantie. Durch intensive Betreuung schafft es ein Teil der Menschen, die dort lange ohne Job waren, wieder in die Privatwirtschaft, andere arbeiten für die Gemeinde oder gemeinnützige Vereine und tragen so zum Gemeinwohl bei. Angstzustände, Schlafstörungen und Hautprobleme sind unter den Teilnehmenden signifikant zurückgegangen und am Wichtigsten: Alle Teilnehmenden haben jetzt auch am Ende des Monats genug Geld, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem scheint das Projekt den Arbeitsmarkt insgesamt zu stimulieren, sagt der niederösterreichische AMS-Chef Sven Hergovich im Gespräch mit Nina Horaczek. Ihren Bericht im FALTER.morgen finden Sie hier. 


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Podcast

In der neuen Folge von "Scheuba fragt nach…" berichtet der Florian Scheuba über goldene Fallschirme, unsere 25 Millionen Euro-Spende für Putins Lieblingsklub und geheime Bestsellermedien. Mit dem Schriftsteller Rabinovici erforscht er die Öffentlichkeitswirksamkeit von Unsinn und das Spektrum Moskaus nützlicher Idioten von Herbert Kickl bis Peter Weibel.


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