Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
Im letzten Jahr ist ein Historiker emeritiert, der seine ganze Karriere lang ein – und das ist noch vorsichtig-euphemistisch ausgedrückt – kokettes Verhältnis zum Rechtsextremismus unterhalten hat. Er hatte sichtlich Spaß an der Provokation, auch wenn seine Lehrveranstaltungen immer wieder gestört wurden und mancher Kollege grußlos an ihm vorbeiging, wenn er ihm am Institut über den Weg lief. Zugleich wurde ihm selbst von Historikern, die ganz konträre politischen Ansichten hegen, eine hohe fachliche Kompetenz attestiert.
Der Mann, dessen Verlängerung als Assistent ich in meiner hochschulpolitisch aktiven Zeit zu verhindern versucht habe (gemeinsam mit gleichgesinnten Studenten und, wie man sehen konnte, erfolglos), ist mir zuletzt wieder in Zusammenhang mit einem Begriff eingefallen, der mittlerweile schon über siebzig Jahre auf dem Buckel, in letzter Zeit aber eine kleine Renaissance erlebt hat. Die Rede ist von der Ambiguitäts(in)toleranz. Ursprünglich eingeführt wurde der Terminus von der aus Lemberg gebürtigen austro-amerikanischen Analytikerin und Psychologin Else Frenkel-Brunswik, die maßgeblich an den "Studien zum Autoritären Charakter" beteiligt war, die in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre unter der Leitung von Theodor W. Adorno in Berkeley durchgeführt wurden und die mittels von Fragebögen über zweitausend Probanden auf ihre Anfälligkeit für Faschismus und autoritäre Neigungen untersuchten.
Frenkel-Brunswik beschreibt Ambiguitätsintoleranz als eine "Tendenz, auf Schwarz-Weiß-Lösungen zurückzugreifen, Prozesse der Bewertung vorzeitig und vielfach unter Missachtung der Realität abzuschließen und sich um eine unbegründete und unzweideutige Akzeptanz oder Ablehnung anderer Menschen zu bemühen." Der aus der empirischen Studie extrapolierte "Autoritäre Charakter" ist mittlerweile wohl weitgehend historisch geworden; die Ambiguitätstoleranz hingegen feiert fröhliche Urständ’.
In den letzten Jahren war es vor allem der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der sich mit diesem Begriff und der "Kultur der Ambiguität" auseinandergesetzt hat. Laut Bauer sind Menschen "ihrer Natur nach nur beschränkt ambiguitätstolerant" und streben daher nach Eindeutigkeit. Weil diese Welt aber ein ziemlich zwielichtiger Tummelplatz der Zwei- und Mehrdeutigkeiten ist, wo uns stets zu wenige oder zu viele Informationen bereitstehen, hat der Versuch, Eindeutigkeit – womöglich auch noch dauerhaft! – herzustellen, immer auch etwas Gewaltsames an sich: am offenkundigsten in den mörderischen Konsequenzen totalitärer Ideologien und Regime, egal, ob diese nun den russischen Staat gegen "Faschisten" verteidigen oder den Islamischen Staat als Bollwerk gegen eine Welt der Ungläubigen errichten wollen.
Tatsächlich ist Ambiguitätsintoleranz keineswegs nur unter religiösen Fundamentalisten, Trump-Anhängern oder Putin-Verstehern verbreitet, sondern findet sich auch unter jenen, die Achtsamkeit, Toleranz und das Lob der Diversität auf ihre regenbogenbunten Fahnen geschrieben haben. Das gilt selbstverständlich nicht für alle; es gibt allerdings eine Form von One-Way-Wokeness, die grenzenlose Selbstmitleidigkeit mit einer moralistisch aufgetümmelten Aggressivität gegenüber anderen vereint, und die jedes Gespür für Verhältnismässigkeiten, jeden Respekt vor Persönlichkeitsrechten und jede Empathie vermissen lässt, sobald es nur "die Richtigen" trifft.
Was mich zu dem eingangs zitierten Fall zurück und zu der Frage bringt, ob ich damals richtig gehandelt habe oder mich heute anders verhalten würde. Anders gefragt: Welches Ausmaß von Ambiguitätstoleranz kann ich mir abverlangen oder hätte ich mir abverlangen sollen? Ich weiß darauf keine eindeutige Antwort. Was ich schon weiß, ist, dass das Gegenteil, also Ambiguitätsintoleranz, eine Form der Distanznahme zur Voraussetzung hat, die auch als "Othering" bekannt ist. Wen ich verachten, beschämen, an den Pranger stellen oder gar vernichten zu dürfen glaube, der oder die darf mir selbst nicht zu ähnlich sein. Daher muss die Wahrnehmung von allem, was mich an eigene Schwächen erinnern könnte, narzisstisch-aggressiv abgewehrt werden.
Am schlechtesten gelingt das dort, wo einem Menschen tatsächlich "nahe stehen" – in der Familie, unter Freunden, in der Peergroup, am Arbeitsplatz. Es fällt uns hier schwerer, darüber hinweg zu sehen, dass jemand zwar hin und wieder einen sexistischen Witz macht, einen blöden Spruch über Ausländer ablässt oder seine Stimme einer völlig unmöglichen Partei gibt, zugleich aber die meiste Zeit über auch ein fürsorglicher Vater, eine hilfsbereite Kollegin oder ein loyaler Freund ist, auf den wir uns auch dann verlassen können, wenn es uns hinten nass reingeht.
Während meiner Studienzeit habe ich – um ein letztes Mal auf diese zurückzukommen – auch etwas gelernt, was auf keinem Lehrplan und in keiner Vorlesungsmitschrift stand; nämlich dass man die sogenannte politische Gesinnung, die jemand vor sich herträgt oder sich ans Revers steckt, auf keinen Fall überschätzen soll. Die schlimmsten Stalinisten und Stalinistinnen, die mir seinerzeit untergekommen sind, gehörten einer angeblich basisdemokratisch verfassten Gruppierung an. Helmut Kohls viel und wohl zu Unrecht kritisiertes Diktum von "der Gnade der späten Geburt" passt hier wie Arsch auf Eimer: Ich möchte nicht wissen, wie sich die Genannten aufgeführt hätten, wenn sie nicht im Wien der 1980er-, sondern im Moskau der 1930er-Jahre zugange gewesen wären. Ich kann es mir aber leider vorstellen. In unüberbietbarer Lakonie auf den Punkt gebracht hat diese Einsicht – of all people! – Ernst Jünger: "Man muß den Typus des Verfolgers im Auge behalten, nicht die Art der Parteiungen".
Ihr Klaus Nüchtern
Die Journalistin Solmaz Khorsan hat ein sehr lesenswertes kleines Buch zum Thema "Pathos" geschrieben. Im Interview, das ich mit ihr geführt habe und das die schöne Überschrift "Man kann auch mal die Klappe halten" trägt, kommt sie auch auf die "Ambiguitätstoleranz" zu sprechen.
Apropos "Pathos". Im aktuellen FALTER-Feuilleton ist ein ganzes Pathos-Paket versteckt. Wolfgang Kralicek ist nämlich nach Oberammergau gepilgert, um sich die Passionsspiele anzusehen, die dort seit 400 Jahren, aber insgesamt erst zum 42. Mal stattfinden.
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller ist jemand, der Identitätspolitik und Wokeness seit Jahren von links kritisiert. Sein dieser Tage erscheinendes Buch "Zwei Enthüllungen über die Scham" macht da keine Ausnahme und setzt sich auf originelle und überraschende Weise mit dem altbekannten, Pfallers Meinung aber nach falsch verstandenen Unterschied zwischen "Scham- und Schuldkulturen" auseinander. Ein Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass die Scham beziehungsweise das Ansinnen, jemand hätte sich zu schämen, Menschen als ganze Person erfasst: Sie werden nicht aufgrund ihrer Haltungen oder Positionen, sondern aufgrund ihrer Herkunft und Identität beschämt. Die Konsequenzen sind desaströs, denn: Man kann sich entschuldigen, aber nicht entschämen.
Wie sich eine völlig aus dem Ruder gelaufene One-Way-Wokeness auf dem Campus der fiktiven Pembroke Univercity auswirkt, zeichnet die Netflix-Serie "The Chair" (dt.: "Die Professorin") auf sehr unterhaltsame, aber auch beklemmende Weise nach. Meine Lieblingsfiguren: Ju-Ju und Prof. Joan Hambling
Wenn man sich für zeitgenössischen Jazz abseits des Mainstream interessiert, dann ist das in Lissabon ansässige Label Cleanfeed Records eine verlässliche Bezugsquelle. Besonders elegant finde ich "Mt. Meru", ein originell instrumentiertes Chamberjazz-Album des portugiesischen Gitarristen André B. Silva
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