God save die Kopiermaschine! - FALTER.maily #824

Tessa Szyszkowitz
Versendet am 07.06.2022

Haben Sie schon mal versucht, mit zwei geplatzten Reifen weiter auf der Autobahn zu fahren? Das ist genau das, was Boris Johnson gerade tut. Am Montagabend haben ihm zwar 41 Prozent seiner eigenen konservativen Abgeordneten im britischen Unterhaus das Misstrauen ausgesprochen, aber weil er das Votum gewonnen hat, winkt er jetzt lustig hinter dem Lenkrad hervor und sagt: "Ich sitze immer noch am Steuer."

Diesen leicht tragischen Vergleich zog heute Vormittag William Hague, von 1997-2001 selbst Parteichef der Tory-Partei. Zu Hagues Zeit war die Partei noch in der Hand von zivilisierten Konservativen. Heute ist das anders – Boris Johnson hat die Tories mit seinem populistischen Brexit-Projekt an den rechten Rand gezogen.

Bisher haben William Hague und moderate Gleichgesinnte dem Chaos in Downing Street bloß mit einer gehobenen Augenbraue zugesehen. Denn solange Boris Johnson an der Wahlurne eine Wunderwaffe war, nahm man alles in Kauf. Auch, dass dieser Parteichef und Premierminister mit Lust und Laune genau jene Covid-Regeln brach, die er selbst verhängt hatte.

Inzwischen aber hat sich die Stimmung gegen Johnson gedreht. Die konservative Webseite "Conservative Home" hat in ihrer jüngsten Umfrage festgestellt, dass 55 Prozent der Basis den Rücktritt ihres einstigen Lieblings befürworten. Nur noch 41 Prozent wollen, dass er bleibt. Partygate hat seine Beliebtheit ausradiert.

Ich habe mich öfters gefragt, ob die Leute angesichts von Pandemie, Lebenskostenexplosion und Krieg in der Ukraine nichts Besseres zu tun haben, als sich über eine Party von Mitarbeitern in Downing Street, dem Regierungs- aber auch Wohnsitz des britischen Premierministers, zu echauffieren.

Doch es trifft die Menschen eben, dass sie ihre Eltern während der Lockdowns zwei Jahre nicht mal besuchen konnten, während besoffene Politberater und Privatsekretäre bis drei Uhr früh feierten und dabei auch noch auf die Kopiermaschine kotzten.

Deshalb sind Boris Johnsons Stunden jetzt gezählt. Auch Theresa May, Margaret Thatcher und John Major haben zu ihren Zeiten Misstrauensvoten überlebt. Major blieb noch zwei Jahre, May sieben Monate, Thatcher nur sieben Tage. Keiner hat sich je von einem Misstrauensvotum der eigenen Leute wieder so richtig erholt.

Zumal es jetzt noch eine weitere Untersuchung in die Privatparties bei den Johnsons geben wird, die bisher von der offiziellen Untersuchung der Chefbeamtin Sue Gray und jener von der Polizei ausgenommen worden sind.

Zur Ablenkung will Boris Johnson jetzt erst einmal innenpolitische Themen wie die Bekämpfung der steigenden Kosten und seinen heroischen Einsatz als Waffenlieferant für die Ukraine in den Vordergrund ziehen.

Ob er damit Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Schon im Juni stehen zwei Tests an. In zwei Wahlkreisen müssen die Abgeordneten nach Rücktritten neu gewählt werden. Beiden konservativen Amtsinhabern droht ein Debakel - der eine könnte in einem klassisch konservativen Wahlkreis Tiverton & Honiton an einen Liberaldemokraten verlieren. Der andere Urnengang ist im neokonservativen Wahlkreis Wakefield im Norden Englands, der 2019 von Labour zu den Tories gegangen ist. Dieser Wahlkreis könnte wieder an Labour zurückfallen.

Verliert Boris Johnson weitere Wahlen, werden die Rebellen in der eigenen Partei nicht zögern, die Regeln zu ändern, die bisher besagen, dass man einem Parteichef nur einmal pro Jahr das Misstrauen aussprechen kann.

Was dann passiert und wer Boris Johnson nachfolgen könnte, erzähle ich Ihnen dann bei Gelegenheit. Bis dahin aber wünsche ich erst mal einen guten Abend.

Ihre Tessa Szyszkowitz


Zum Nachschaün

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