Andreas Babler, SPÖ-Chef - FALTER.maily #1105
Na, das eskalierte schnell, wie man bei uns auf Twitter zu sagen pflegt. Da sieht man einmal, wie ernsthaft man mit falschen Prämissen ...
In Wien, Niederösterreich und dem Burgenland war es bereits vor einer Woche so weit, morgen beginnen auch im Rest des Landes die Sommerferien. Für viele Kinder und Jugendliche wird der Zeugnistag dabei zum Schreckenstag: Versauen die Noten den Sommer? Sorgt das Zeugnis gleich für ein Jahr mehr in der Schule?
Meine ältere Tochter hat inzwischen ihr erstes Jahr an er Uni hinter sich, ihre 17-jährige Schwester kam vergangenen Freitag mit demselben Zeugnis nach Hause wie immer: Auch die vorletzte Klasse im Gymnasium hat sie mit einem Notenschnitt von 1,0 abgeschlossen. Eine vom Ehrgeiz zerfressene Streberin also? Mitnichten.
Meine Tochter ist ein wunderbar goscherter und (nicht nur) in Sachen Klimaschutz engagierter junger Mensch; sie liebt es, sich die Nächte mit Freund*innen um die Ohren zu schlagen; für eine Beziehung ist Platz; für Skateboardaction und Poledance-Kurse ebenso; und wenn in der Lobau-Signal-Gruppe Räumungsalarm ausgerufen wird, stürmt sie umgehend aus dem Unterricht, weil andere Dinge nun einmal wichtiger sind. Ich erzähle Ihnen nicht deshalb vom Einserzeugnis um zu prahlen, es geht vielmehr um die Vorgeschichte.
Wie auch ihre große Schwester hat meine Tochter in den ersten acht Jahren ihrer Schullaufbahn nie eine Schularbeit schreiben oder eine Prüfung absolvieren müssen; Hausübungen gab es nur fallweise und mehr oder weniger auf freiwilliger Basis; und hätten sie keine Lust dazu gehabt, sie hätte nicht einmal am Unterricht teilnehmen müssen. Notenzeugnis haben sie von der ersten Klasse Volksschule bis zur vierten Klasse Unterstufe auch keines erhalten, stattdessen schrieben sie selbst umfangreiche Dokumentationen des jeweiligen Schuljahres und bekamen ausführliches Feedback des Lehrpersonals.
Unsere Töchter besuchten beide die Alternativschulen im Wiener Wuk, zuerst das Schulkollektiv, daran anschließend die Schüler*innenschule. Meine Frau und mich kostete das Geld, Zeit und vor allem Nerven; basisdemokratische Entscheidungsfindungsprozesse mit Dutzenden Menschen, die alle nur das Beste wollen, dabei aber andere Vorstellungen von diesem Besten haben, können ein hartes Brot sein.
Und doch möchten wir keine Sekunde dieser Schulerfahrungen missen: Unsere Kinder wurden vom ersten Tag an in ihrer jeweiligen Individualität ernst genommen und gefördert, sie wurden zur Selbstständigkeit erzogen, zur Eigenverantwortung und zu kritischem Hinterfragen, und sie wurden in ihrem jeweils eigenen Tempo und in ihren spezifischen Interessen unterstützt. Sie wechselten dann beide an ein Wiener Gymnasium, das als vergleichsweise offen, liberal, fortschrittlich und alles andere als stumpf leistungsorientiert gilt.
Trotzdem fluchte meine Ältere – ebenfalls immer Vorzugsschülerin übrigens – im Maturajahr, wie froh sie sei, dass die Regelschule mit ihren Funktionsmechanismen und dem so stumpfen wie stumpfsinnigen Training für die Zentralmatura bald zu Ende gehe, viel länger hätte sie das nämlich nicht ausgehalten. Und dann meinte sie noch, dass sie durch die Punkband, in der sie seit ihrem 15. Lebensjahr gespielt hat, mehr fürs Leben gelernt habe als durch vier Jahre Bundesoberstufenrealgymnasium.
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, abgesehen von Weltfrieden, Klimarettung, der Abschaffung des Kapitalismus und einem guten Leben für alle: Die ÖVP möge nach der nächsten Nationalratswahl und dann für lange Zeit keiner Bundesregierung mehr angehören – und das irgendwo im Jahre Schnee stecken gebliebene österreichische Schulsystem möge endlich von Grund auf neu gedacht werden.
Ich grüße Sie mit einem überzeugten Nie mehr Schule (in dieser Form),
Ihr Gerhard Stöger
Alternativschulen funktionieren unter anderem durch die Mitarbeit der Eltern. Ich habe das familiäre Elternarbeitsstundenkonto einst durch die Mitherausgabe des Buches „Zuhause in der Schule“ gefüllt. Es ist 2015 zum 35-jährigen Bestehen der Schüler*innenschule im Milena Verlag erschienen und führt mit formal ganz unterschiedlichen Zugängen ein in die Welt einer Schule ohne Noten, Prüfungsstress und Druck. Sie können das Buch im Faltershop bestellen.
Sie sind noch auf der Suche nach den passenden Büchern für den Sommer? Die Falter-Literaturredaktion liefert in der aktuellen Ausgabe zwölf Empfehlungen; Tipps für die Kleinsten enthält wiederum Kirstin Breitenfellners monatliche Kinderbuchseite.
Heute beginnt das Festival Impulstanz, bis 7. August überzieht es Wien wieder mit dutzenden Tanz- und Performance-Produktionen. Highlights des üppigen Programms stellen Martin Pesl und Sara Schausberger in der aktuellen Titelgeschichte unserer Kultur- und Programmbeilage Falter:Woche vor.
Urlaub, Urlaub in Italien wird noch schöner mit Musik von Adriano Celentano, etwa diesem nicht ganz so bekannten Knaller aus dem Jahr 1973. Ich widme ihn ganz besonders allen Menschen, die dieser Tage ihren Hochzeitstag feiern oder gar auf Hochzeitsreise sind.
Zug fährt ab!
Terranes Reisen, also die Fortbewegung zu Erden ganz ohne Flugzeug, ist der Urlaubstrend 2022. Othmar Pruckner ist mit seinem Buch Auf Schiene Trendsetter und versammelt neben 33 Bahnreisen in und um Österreich Wanderungen, Radtouren und Städtebesuchen.
Der Sommer kann kommen!
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