Wenn eine Reisende in einer Sommernacht - FALTER.maily #850

Katharina Kropshofer
Versendet am 11.07.2022

Wien-Innsbruck, Innsbruck-Zürich, Zürich-Basel, Basel-Paris, Paris-Bordeaux, Bordeaux-Bergerac – 30 Stunden Zugreisezeit, mindestens. Noch nicht inkludiert sind da die hunderten Stunden Planung, um die richtige Strecke, die passende Reservierung, den günstigsten Nachtzug aufzuspüren. 

Ich schreibe diese Zeilen aus dem Nightjet retour, diesmal via Straßburg. Die Freundin, die ich in der Nähe von Bordeaux besucht habe, hat eine Regel: Anreise nur per Zug. Für viele, die sie in ihrem Haus empfängt, war das anfangs radikal. Doch mittlerweile ist es in unserem Freundeskreis Routine: Barcelona, London, Amsterdam, Berlin, alles auf Schiene erreichbar. 

Ich liebe Zugfahren, die vorbeiziehende Landschaft, die überraschenden Gespräche, das entschleunigende Wegfahren und Ankommen. Als Schlaftalent fällt mir auch die Nachtruhe im Nightjet nicht schwer. Und ich bin überzeugt davon, dass sich viele Leute selbst belügen, wenn sie die Flugzeit auf zwei Stunden berechnen und dabei nicht die ewig langen Wege zum Flughafen, die Security Checks und vorprogrammierten Verspätungen einberechnen. Auch für Sie dürfte es keine Neuigkeit sein, dass Fliegen pro Kopf gerechnet den Löwenanteil an Treibhausgasemissionen ausmacht. Rund 3,5 Prozent der globalen Emissionen fallen auf Flugreisen zurück. Das mag nicht nach viel klingen, aber bei "business as usual” könnte sich diese Zahl bis 2050 verdreifachen

Ich schreibe diese Zeilen aber nicht, um zu zeigen, wie moralisch überlegen ich bin (auch ich steige manchmal in den Flieger, wenn es nicht anders geht). Auch nicht, weil ich Ihnen ein schlechtes Gewissen machen möchte, wenn Sie bei Ihrem Familienurlaub nach Portugal den Flughafen und nicht den Bahnhof ansteuern. Sondern um klarzumachen, wie wahnsinnig man momentan für diese Fortbewegungsart sein muss: 30 Stunden Reisezeit, mehrere Hundert Euro, Planungsfähigkeiten eines kleinen Genies. Wer bitte tut sich sowas an? 

Dass meine Fortbewegungsart als radikal gilt, macht mich wütend. Vor allem, weil ich weiß, dass es nicht so sein müsste. Gerade zeigte ein "vorläufiger Endbericht" des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, wie viel Geld aus der Staatskasse in klimaschädliche Investitionen fließt: Fünf Milliarden Euro (!) für klimaschädliche Privilegien in Industrie, Landwirtschaft – und das, obwohl einige Daten fehlen, die Zahl noch höher sein könnte. Auch der Verkehrssektor ist vorne mit dabei: die steuerliche Begünstigung von Diesel gegenüber Benzin ergibt ein Subventionsvolumen zwischen 540 Millionen und 1,1 Milliarden Euro pro Jahr, schreibt Der Standard, durch die Mineralölsteuerbefreiung in der Luftfahrt entstehen Mindereinnahmen für den Staat. Sprich: 408 Millionen Euro entgehen der Staatskasse so jährlich.

Die ÖBB hat viel richtig gemacht, hat die Nachtzüge behalten, neue Zugreisefirmen wie Midnight Trains sprießen aus dem Boden, das Herzensprojekt Klimaticket der Grünen Ministerin Leonore Gewessler hat Vorbildwirkung. Zumindest scheinen momentan überfüllte Züge zu zeigen, dass das Angebot angenommen wird.

Doch genauso wenig wie es alleinig in den Händen des Individuums liegt, die Klimakrise zu bewältigen (lebens- und systemischer Wandel sind zwei Seiten einer Medaille) sollte es nicht auf wahninnige Zug-Idealisten ankommen, unser Reiseverhalten zu verändern. Was wir stattdessen tun können? Druck im eigenen Unternehmen machen, damit etwa Geschäftsreisende für die Wahl der Schiene belohnt werden (etwa mit einem Ausgleichstag); Informationssysteme für Reservierungen und Buchungen verbessern (das funktioniert, wie diese dänischen Forscher gezeigt haben); und endlich die klimaschädlichen Privilegien abschaffen, damit Reisekosten auch dem entsprechen, was all das wirklich kostet. Falls dann Geld übrig bleibt, wünsche ich mir eine Nachtzugverbindung Wien-Lissabon – und zwar im TGV-Tempo.

Ihre Katharina Kropshofer


Aus Dem Falter 1

Meine Kollegin Soraya Pechtl, Redakteurin im FALTER.morgen (den Sie hier abonnieren können), hat sich für die vergangene Falter-Ausgabe der Flugbranche gewidmet. Die Bezahlung ist mies, das Personal überarbeitet, Flughafenarbeiter drohen deshalb mit Streiks. Wie soll das weitergehen? Ihre Reportage lesen Sie hier.


Empfehlung

Wer lange Zugreisen macht, braucht auch die entsprechende Unterhaltung. Nichts eignet sich besser fürs Zuhören und gleichzeitige aus dem Fenster schauen, wie mehrteilige Podcasts. Besonders spannender Klassiker für True Crime Fans: Serial. Für Fortgeschrittene: Wind of Change

Falls Sie eher der visuelle Typ sind, empfehle ich Ihnen die aktuelle Ausgabe des Wissenschaftsmagazin "Science Notes" zum Thema Reisen. Kleine Warnung: Das Reisen wird hier anders interpretiert und kann auch mal die vertikale Migration von Plankton meinen.

Wer Anfänger im traingame ist, aber gerne mal Zugreisen möchte, empfehle ich für die Planung folgende Websites: “The Man on Seat 61” (er weiß wirklich alles!), Trainline für günstige Tickets und das klimafreundliche Reisebüro Traivelling für ausgefallenere Zugreisen. 


Aus Dem Falter 2

Und noch was ganz anderes: FPÖ-Chef Herbert Kickl hat vor Gericht eine peinliche Niederlage kassiert. PR-Berater Wolfgang Rosam durfte zurecht das Gerücht verbreiten, Kickl habe sich heimlich gegen Corona impfen lassen. Das schreibt Falter-Redakteur Josef Redl.

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