Politik als Medizin

Kurt Langbein
Versendet am 28.07.2022

Die zehntägige Absonderung von Covid-Infizierten gehört nun der Vergangenheit an. Fahrlässig und gefährlich finden das die Twitteria und auch manche SPÖ-Politiker. Dass etwa in Schweden oder Großbritannien die Quarantäneregeln schon seit Monaten nicht mehr gelten und dennoch weit weniger Infizierte zu verzeichnen sind als bei uns, stört die Bedenkenträger nicht.

Die Covid-Sommerwelle und die zu erwartende Herbstwelle verlangen nach "strengeren" Maßnahmen, tönt es wieder in heimischen Gazetten und Kolumnen, während sich praktisch alle Europäische Staaten in Gelassenheit üben.

Es ist an der Zeit nachzusehen, was rigide Freiheitsbeschränkungen tatsächlich bringen. Österreich liegt beim "Stringency Index" des "Oxford Government Response Tracker" ganz vorne – kaum ein Land hat Kinder und Alte so lange und so intensiv isoliert und allgemeine Freiheiten so weit eingeschränkt. Lediglich China und Indien haben demnach "strenger" agiert. Hat das viel gebracht?

In Österreich sind in den zweieinhalb Pandemiejahren neun Prozent mehr Menschen gestorben als in den Jahren davor, in der wesentlich weniger rigiden Schweiz sieben Prozent und in Schweden, wo nur Empfehlungen statt Verbote eingesetzt wurden, fünf Prozent.

Es wäre an der Zeit, sich wieder der Gesundheitspolitik insgesamt zu widmen. Die ist entscheidend für Gesundheit oder Krankheit, immerhin das hat uns die Pandemie gelehrt. Aber das gilt nicht nur für dieses eine Virus. Selbst in den schlimmsten Corona-Zeiten starben fünfmal mehr Menschen an Herz-Kreislaufkrankheiten und dreimal mehr an Krebs als an Covid.

Wie geht die österreichische Politik mit den anderen Gesundheitsrisiken um? Jedenfalls stellt sie reichlich Medizin zur Verfügung: Mit 5,3 Ärzten je 1.000 Einwohner stellt sie viele Ärzte zur Verfügung, im Durchschnitt der Industriestaaten sind es gerade einmal 3,6. Auch der Aufwand für Medikamente liegt gut 20 Prozent über dem Schnitt der OECD-Staaten.

Bringt das viel Gesundheit und ein langes Leben? Auch hier zeichnen seriöse Zahlen ein eher tristes Bild: Die Lebenserwartung unterscheidet sich in Europa wenig. Aber die Zahl der chronisch kranken Menschen stellt Österreichs Gesundheitspolitik und Ärzten kein gutes Zeugnis aus:

Ein 65-jähriger Mensch kann sich in Schweden durchschnittlich noch auf 16 in Gesundheit verbrachte Lebensjahre freuen, in Deutschland auf elf und in Österreich gerade einmal auf acht Jahre. Ganz ohne Long Covid, die Zahlen stammen aus 2020.

Es wäre gut, dazu die Debatte zu eröffnen.

Ihr Kurt Langbein


Aus Der Welt

In der chinesischen Stadt Guangzhou setzten die Behörden einen ungewöhnlichen Schritt: Sie entschuldigten sich bei der Bevölkerung für ihr harsches Vorgehen. Was war passiert? Vertreter der Gesundheitsbehörden waren gewaltvoll in die Wohnungen von Menschen eingedrungen, die aufgrund von Covid-Infektionen in sogenannten "Quarantäne-Hotels" untergebracht waren. In den Wohnungen hatte man infizierte Kontaktpersonen vermutet. Die öffentliche Empörung war so groß, dass sich die Behörde offenbar zu diesem – für chinesische Verhältnisse – sehr ungewöhnlichen Schritt genötigt sah, wie der britische Guardian berichtet.


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