Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
Ich bin kein Freund der Eigenverantwortung. Mir reicht Verantwortung völlig. Allerdings ist das Wort Eigenverantwortung recht verräterisch. Worauf weist uns das "eigen" darin hin? Es könnte auch "selbst" heißen; vielleicht klingen die Konsonanten zu zischelnd, das weichere "ei" schmeichelt sich mehr ein. Eigenverantwortung ist ein verbales Ei im Glas. Wir sind das Glas.
Das Eigene ist als Besitz und stolze individueller Domäne so positiv besetzt, dass man gar nicht mehr wahrzunehmen scheint, was sich dahinter versteckt.
Den sogenannten Hass im Netz nenne ich lieber Hetze, Verhetzung, Aufreizung zur Gewalt, Mobbing, was auch immer (Hass schien mir stets zu verharmlosend zu sein). Wird man zum Objekt von Verhetzung, kommt das manchmal bereits der Veröffentlichung auf einer altrömischen Proskriptionsliste gleich.
Damals wurden Menschen, politische Gegner vor allem, der Ächtung preisgegeben, ihre Namen wurden auf öffentlichen Anhängen bekannt gemacht, proskribiert, jeder durfte sie ungestraft töten. Ganz so weit sind wir nicht, aber der in der digitalen Welt herrschende Verfolgungsfuror nimmt zu, wie der tragische Fall der in den Tod getriebenen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr zeigt.
Was deren Tod mit Eigenverantwortung zu tun hat? Die Polizei, wegen Laschheit in der Kritik, sparte bei ihrer Verteidigung nicht mit guten Hinweisen, wie man sich im Fall einer Verfolgung zu verhalten habe. Im ORF sagte eine Polizeisprecherin, der Fall Kellermayr sei "ein Fall, der aufzeigt, wie wichtig es ist, gemeinsam hinzuschauen. Einmal als Familie und Freundeskreis auch Mut zuzusprechen, wenn man den Hass in Netz bemerkt, dagegen aufzutreten, zu posten, und wenn man sich das nicht traut, der Person, die gerade gehatet wird, die Unterstützung anzubieten. Ich glaube, das wird zu wenig gemacht, weil wir glauben, dass das bald vorbeigeht. (…) Ich glaube, da sind wir als Gesellschaft gefragt, hier den Mut zuzusprechen, das auszusprechen und nicht dieses Silencing zuzulassen."
Da haben wir sie, die Eigenverantwortung, empfohlen als Hausmittel gegen "Hating" und "Silencing". Wenig charmant, wenn es von Seiten einer Behörde kommt, die Verbrechen verfolgen sollte, lieber aber im Jargon Zeitgenossenschaft simuliert, in der Hoffnung, dass wir es nicht merken.
Jetzt hab ich’s: Das "eigen" in Eigenverantwortung soll uns davon ablenken, dass hier das Eigentum der Tech-Konzerne geschützt wird. Nämlich jene rechtlichen Konstruktionen in Ameriko und anderswo, die ihnen ermöglichen, in einem diesbezüglich rechtsfreien Raum zu agieren. Sie haben keine Verantwortung, die bleibt ganz unsere eigene.
Würde der FALTER jemandem Raum geben, um andere zu verhetzen, zu bedrohen, zu mobben, würde er kurzerhand selbst zur juristischen Verantwortung gezogen werden. Das Opfer könnte ihn klagen, jedes Gericht würde ihn pronto bestrafen. Man müsste sich nicht von Ausflüchten des Mediums ablehnen, hinhalten, frustrieren und abweisen lassen. Es wäre ganz einfach, den FALTER und die in ihm Hetzenden, die er durch Anonymität schützt, zur Verantwortung zu ziehen. Die Verantwortung ist klar.
Bei den Social Media geht das nicht. Abgesehen davon, dass deren Geschäftsmodell zum Teil in Verfolgung besteht, in freundlicher (Follower) und unfreundlicher (Proskription), und gröbere Reize belohnt, während es Besänftigung bestraft, darf solch ein noch immer rechtsfreier Raum "eigentlich" überhaupt nicht sein. Er stellt das Eigentum der Tech-Konzerne über Rechtsstaat und Demokratie. Das ist unverantwortlich und verantwortungslos.
Ich wünsche Ihnen trotzdem eine schöne Restwoche.
Ihr Armin Thurnher
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