Bipolar

Gerhard Stöger
Versendet am 04.08.2022

Wir leben in unangenehmen Zeiten. Die Pandemie ist allenfalls gefühlt vorbei; die Klimakrise wird in Tagen wie diesen für sehr viele Menschen sehr unmittelbar spürbar; um die winterliche Verfügbarkeit von ausreichend Gas kreisen Fragezeichen; in Sachen Wirtschaft stehen die Zeichen auf Krise; Putins Bösartigkeit zielt über die Ukraine hinaus auf die Destabilisierung der gesamten westlichen Welt ab; Corona-Leugner von gestern sind die Ukraine-Sanktionengegner-Demonstranten von morgen; ein asozialer Mob im Netz feiert den Tod einer engagierten oberösterreichischen Ärztin als Erfolg; schwer erkämpfte reproduktive Rechte werden nach Jahrzehnten wieder in Frage gestellt oder gar abgeschafft; junge Feminist:innen respektive Trans-Aktivist:innen suchen den Feind bevorzugt in den eigenen Reihen und sorgen dafür, dass "Terf!" drauf und dran ist, das gute alte "Nazi!" als linkes Lieblingsschimpfwort abzulösen.

Ich hoffe, Sie haben die Lektüre an dieser Stelle nicht schon bedrückt bis entnervt abgebrochen? Eigentlich möchte ich Ihnen heute nämlich von einer jungen Musikgruppe erzählen, die ich für das Aufregendste halte, das der österreichische Pop in den letzten zwei, drei Jahren hervorgebracht hat. Sie heißt Bipolar Feminin, hat ihre Wurzeln im oberösterreichischen Ebensee, agiert von Wien aus und ist von jenem Zauber umgeben, der einst auch die frühen Wanda ausgezeichnet hat – nur dass Musik und Haltung eine ganz andere sind. Aber der Reihe nach.

Am 2. November 2019 wollte es der Zufall, dass ich eines der ersten Konzerte einer jungen lokalen Punkband sah, in einem kleinen Wiener Gürtellokal. Der Name dieser Band – Bipolar Feminin – war irritierend und interessant zugleich, die Musik angriffslustig, die deutschsprachigen Texte verstand man leider kaum.

Trotzdem war sofort spürbar: Hier geht es um was, hier will jemand was. Allen voran die bisweilen auch Gitarre spielende Sängerin Leni Ulrich, eine bei allem Zorn doch auch dem Schmäh gegenüber nicht ganz abgeneigte junge Frau mit enormer Bühnenpräsenz und Ausstrahlung (an ihrer Seite: ein Bassist, ein Gitarrist und ein Schlagzeuger).

Und dann war da noch "Herr Arne", ein Fansong für Arne Zank, den Schlagzeuger der wunderbaren deutschen Band Tocotronic, die ihrerseits in den 1990ern einen Fansong für die queere US-Band Team Dresch veröffentlicht hatte. So eroberten Bipolar Feminin sofort ein Plätzchen in meinem Herzen. Und dann kam: nichts – respektive eine quälend lange Pandemie.

Ziemlich genau zweieinhalb Jahre später spielten Bipolar Feminin heuer im April wieder in einem Wiener Gürtellokal. Sie hatten inzwischen sechs Lieder aufgenommen und unter dem Titel "Piccolo Family" auf CD gepresst, mit Hilfe des tollen österreichischen Labels Numavi Records. Der Club war zur Präsentation völlig überfüllt, der Raum von der ersten Konzertsekunde an so eindrucksvoll wie mitreißend mit Energie geflutet, das junge Publikum brüllte Zeile für Zeile Lieder mit, die doch gerade erst erschienen waren.

Beim Popfest vergangenes Wochenende fand dann die Probe aufs Exempel statt: Das Quartett hatte beim viertägigen Wiener Festival der heimischen Popmusik einen miesen Termin bekommen. Nicht zur Primetime draußen auf der großen Bühne, sondern erst samstagnachts gegen ein Uhr, verräumt in eine unwirtliche, viel zu kleine Rumpelkammer der TU mit fragwürdigem Sound und noch fragwürdigerem Flair.

Hier waren nicht nur Fans, hier war auch Festival-Laufkundschaft. Dementsprechend konnten diesmal nicht alle mitsingen, aber kaum jemand hat den Raum nach dieser gut halbstündigen Intensitäts- und Energieexplosion anders als durchgeschwitzt und beglückt verlassen.

Bipolar Feminin setzen in ihren Pressefotos, ihren Artworks und und ihrem Auftreten auf Verweigerung, nicht auf Anbiederung – und wirken in ihrer Schroffheit doch gewinnend. Sie bewahren sich bei aller indierockigen und postpunkigen Wucht vorerst erfolgreich diese ganz besondere Klapprigkeit und lassen bisweilen auch leise Töne zu, ohne dabei leisetreterisch zu sein. In rarer Direktheit, aber ohne auf Plattitüden zurückzugreifen, singen sie über Themen wie Body Positivity, feministisches Krawallmachen oder Mansplaining und die Notwendigkeit, das Patriarchat zu zerschlagen – und packen große Themen in knappe Sätze mit enormer Wirkung: "Beim Heimgeh'n hol' ich noch ein Sis Kebap / Die Periode bleibt aus und ich treib' ab."

Das erste richtige Album von Bipolar Feminin soll im Frühsommer 2023 folgen – beim Hamburger Plattenlabel Buback, mit dem unter anderem auch Tocotronic und Jan Delay verbandelt sind. Hören Sie einstweilen "Piccolo Family", falls Sie sich eine 22-minütige Ablenkung von all dem aktuellen Unbill genehmigen möchten. Noch besser aber: Halten Sie Ausschau nach Konzerten dieser Band.

Ihr Gerhard Stöger


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