Nie mehr Schule - FALTER.maily #1103
Ich schreibe Ihnen diese Zeilen aus meinem Kärntner Jugendzimmer. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich heute wie damals nichts als Wälder ...
Im Januar des vergangenen Jahres stand ich in eisiger Kälter vor dem Familienabschiebezentrum in der Wiener Zinnergasse und filmte eine Polizeiaktion, die mich fassungslos machte. Während die Straßen aufgrund des Lockdowns leer gefegt waren, saßen einige Kinder mit ihren Eltern gedrängt in Polizeibussen, ringsum bellende Polizeihunde und maskierte Beamte der Anti-Terror-Einheit Wega. In einem der Busse saß Tina, 12 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Wien.
Entgegen dem ausdrücklichen Rat von Höchstrichterinnen (Irmgard Griss, OGH; Maria Berger, EuGH) ließ der damalige Innenminister und heutige Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) das Kind mitten in der Pandemie außer Landes bringen. Sebastian Kurz, damals noch Kanzler, schwieg sich aus. Der Koalitionspartner, die Grünen, wurden brüskiert.
Die Begründung für die Härte: Die Mutter von Tina hatte sich den Aufenthalt erschwindelt. Sie log im Asylverfahren, sie widersetzte sich Ausreiseverpflichtungen, sie eskalierte den Fall so lange, bis ihre Tochter hier sozial verankert war.
Nehammer erklärte damals in Hintergrundgesprächen, er werde in so einem Fall nicht nachgeben. Sonst sei das ein Schlag ins Gesicht jener Migranten, die sich ans Fremdengesetz halten. Die Eltern sollten nicht über den Umweg des Kindes einen Aufenthalt erstreiten. Das Argument klang verlockend. Aber es war juristisch falsch.
Schließlich ist da noch ein Mensch mit Rechten: eben das 12-jährige Mädchen Tina, das hier sozialisiert wurde und noch nie in Georgien gelebt hat. Hat das Kind spätestens dann, wenn es zu pubertieren beginnt und erwachsen wird, nicht auch Rechte und zwar solche, die von den Eltern unabhängig sind?
Nein, deklarierten Nehammer, der heutige Chef der Familienpartei ÖVP und sein Vorgänger Kurz.
Ja, sagen nun die Gerichte und schreiben Rechtsgeschichte.
Bereits im Jänner 2022 erklärte das Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung für rechtswidrig. Nun hat der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) eine Amtsrevision, die Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) aus purem politischem Kalkül und Bestemm eingebracht hatte, ebenfalls abgewiesen. Die Rechtsmeinung, dass die Abschiebung unzulässig war, sei vertretbar.
Die Erkenntnisse sind eine Ohrfeige für Nehammer, für Karner und für die christlich-soziale ÖVP sowie auch für viele konservative Medienleute, die der Volkspartei damals die Stange gehalten hatten. Nehammer aber gab stets den liberalen Familienvater im Kabinett Kurz. Nun zeigt ihm das Gericht, dass er ein 12-jähriges Kind in seinen Rechten verletzt hat.
Um es in der Sprache der ÖVP zu formulieren: "Recht muss Recht bleiben", auch wenn es um ausländische Kinder geht. Kinderrechte sind exzessiv zu interpretieren, denn Kinder sind die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft. Auf ihrem Rücken treibt man keine politischen Schlammschlachten, um Stimmen zu maximieren.
Dem Verwaltungsgerichtshof – der mit Rudolf Thienel übrigens einen konservativen, aber grundrechtsaffinen Jus-Professor als Präsidenten hat – ist über seinen Schatten gesprungen. Erkämpft hat das Judikat der Wiener Rechtsanwalt Wilfried Embacher, hier hat er die Details des Erkenntnis gepostet. Tina geht mittlerweile wieder in Wien zur Schule.
Ihr Florian Klenk
Schnee, Sitzblockaden und zähnefletschende Hunde: Das Social Media Team des FALTER hat meine Handy-Mitschnitte aus jener Nacht der Abschiebung in dieses Video verpackt.
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