Rushdie und die Meinungsfreiheit - FALTER.maily #882

Isolde Charim
Versendet am 25.08.2022

Salman Rushdie, indisch-britischer Autor, wurde für seinen Roman „Die Satanischen Verse“ vom iranischen Revolutionsführer Ajatollah Khomeini mit einer Fatwa belegt. Er wurde also von einer islamischen Autorität zum Feind erklärt und als Opfer markiert. Das war 1989. Wer das nicht wusste oder längst vergessen hatte, wurde durch das schaurige Attentat auf den Autor am 12. August daran erinnert.

Seitdem wird Rushdie – gewissermaßen spiegelverkehrt – in den westlichen Medien als Held und Opfer der Meinungsfreiheit gewürdigt. Man möchte ihm weder das eine noch das andere absprechen: weder das Heldenmütige noch das Opfertum sind in Frage zu stellen – aber ob die Sache mit der Meinungsfreiheit so eindeutig ist, das lässt sich hinterfragen.

Nicht zuletzt deshalb, weil Rushdie selbst in seiner Autobiographie im Jahre 2012 angemerkt hat: Seine eigene Verteidigung der Redefreiheit, für die er all die Jahre gekämpft habe, klinge in seinen Ohren mittlerweile abgestanden. Er beginne zu erkennen, dass das Prinzip, das er verkörpert, im Verfall begriffen sei. Heute könnte ein Roman wie „Die Satanischen Verse“ nicht mehr veröffentlicht werden, so Rushdie. Zu groß sei der Konformitätsdruck geworden. Die Fatwa sei verinnerlicht worden.

Wie aber passt das damit zusammen, dass er jetzt wieder als Held der Meinungsfreiheit gefeiert wird? Was feiert man da?

Man feiert die Vorstellung einer wahren, reinen, eindeutigen Meinungsfreiheit. Diese verkörpert er – und für diese musste er nun auch tatsächlich mit seinem Körper einstehen. Aber gerade an Rushdie zeigt sich, dass solch eine wahre Meinungsfreiheit nur dort ist, wo sie fehlt. Die reine Meinungsfreiheit ist gewissermaßen nur negativ zu haben.

Denn sie ist dort am wertvollsten, wo sie nicht gewährt ist. Sie ist dann am wichtigsten, wenn sie nicht durchgesetzt ist.

Nur dann lässt sie sich mit Heroismus verbinden: mit einem Heroismus, der Einspruch erhebt gegen ein Machtwort, gegen eine autoritäre Herrschaft, gegen eine Autorität.

Daran zeigt sich auch, was eigentlich den Kern der Meinungsfreiheit ausmacht. Diese ist als Recht auf freie Meinung und deren Äußerung letztlich ein Recht auf seine eigene Einzelheit. Deshalb reicht es den Gegnern auch nicht, das Wort zu tilgen – etwa „störende“ Schriften zu verbieten. Es muss auch der Sprecher, der Einzelne, der „Störende“ getroffen werden. Genau darauf zielt der Islamismus.

Aber das entspricht nicht den hiesigen Verhältnissen. Im so genannten Westen verhält es sich vielmehr genau anders herum. Hier ist es gerade der Kern dieses Rechts, der heute allgemein häufig missverstanden wird: nicht als Recht, sondern als uneingeschränktes Recht, nicht als Anspruch, sondern als unbegrenzter Anspruch auf seine Einzelheit.

Damit ist die Meinungsfreiheit heute ein Abklatsch. Ja, sie ist schal geworden. Nicht zuletzt seit sie zum Schlachtruf von Hetzern aller Art geworden ist. Vom einstigen Aufbegehren gegen das autoritäre Herrscherwort bleibt vor allem eines: die Widerstandspose. Jede Hetze wird heute im Brustton der Meinungsfreiheit betrieben. Jede Hasstirade missversteht sich als freies Wort und bricht sich solcherart veredelt ihre Bahn. Genau das zwingt dazu, Äußerungen zu reglementieren. Durch so genannte „Hass-Gesetze“ etwa. So wird der Missbrauch im Namen der Meinungsfreiheit getätigt – während der Schutz als Einschränkung der Äußerungen erscheint. Was für eine Verkehrung!

Genau daran zeigt sich: Die alten demokratischen Prinzipien sind vor ihrer Pervertierung nicht gefeit.

Nach dem Attentat wird nun wieder die alte, die reine, die echte Meinungsfreiheit beschworen. Wie ein Fetisch. In unhinterfragter Nostalgie. Wir feiern sie als ob sie ungebrochen noch ihre alte Bedeutung, ihre ehemalige Funktion, ihren früheren Stellenwert hätte. Als ob sie nicht neu zu definieren wäre.

Ihre Isolde Charim


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