Rauchzeichen - FALTER.maily #889

Matthias Dusini
Versendet am 02.09.2022

Winnetou hat sich auf leisen Mokassins in unsere Redaktion geschlichen. Wir mit Karl May Sozialisierten finden es nicht lustig, das unsere Kindheitserinnerungen, die Leidenschaft für "Indianer" (ein besseres Wort gibt es leider nicht) von digitalen Vernaderern vergiftet werden. Auch ich gehöre zu jenen, die spätestens beim Tod von Winnetous Schwester Nscho-tschi einen Kloß im Hals hatten. 

War es eine Gruppe indigener Aktivisten, wie manche vermuten, die den deutschen Ravensburger Verlag bewog, ein Kinderbuch zum Thema Winnetou zurückzuziehen? Oder ein Shitstorm, der wegen angeblich rassistischer Klischees über die Buchmacher hereinbrach? Einer interessanten These zufolge soll der Sturm sogar ein Phantom gewesen sei.

In seltsamer Einmütigkeit koalierten Feuilletons mit der Bild-Zeitung, um den Angriff woker Komantschen abzuwehren. Sogar der bayrische Ministerpräsident Markus Söder ritt aus: "Winnetou und Old Shatterhand waren die Idole ganzer Generation." Sie alle jagen wohl einen Geist: Von einem Verbot der Werke von Karl May war nie die Rede. Eher lässt sich ein Nachlassen von deren identitätsstiftender Wirkung konstatieren. Mangels Interesse lassen die TV-Anstalten die Lizenzen der Winnetou-Filme auslaufen. 

Mein Interesse an den alten Nationen Nordamerikas rührt inzwischen eher aus Büchern wie Charles Kings "Schule der Rebellen" her, das die Verstrickungen der Ethnografie in den Ethnozid an den "Indianern" aufarbeitet. Nach der Lektüre dieses Buches erscheint mir ein Argument schwach, das einige Karl-May-Fans ihren Kritikern entgegenhalten, – er habe im deutschsprachigen Raum Sympathien für indigene Kulturen geweckt.

Mich erinnert das an den Schriftsteller Henry Thoreau, der Mitte des 19. Jahrhunderts die "edlen Wilden" zuerst idealisierte und dann frustriert war, dass sie seinem Bild nicht entsprachen. Steckt nicht auch in unseren Projektionen ein Quantum Gewalt, weil es die Realität der Betroffenen ausblendet? Historiker haben den Begriff Philosemitismus geprägt für die Liebe zu Juden, die schlagartig ins Gegenteil umschlagen kann, wenn sich die Vorstellung nicht mit der Wirklichkeit deckt. So könnten "Indianophile" Rassisten sein, die Indianer mögen. Als Thoreau auf seinen Wanderungen ins Gespräch mit Indianern kam, hat er seine Vorurteile übrigens überwunden: Er hat seine Ahnungslosigkeit akzeptiert. 

Eine der Tragödien der Eroberung Amerikas durch Europäer ist die Vernichtung des kulturellen Gedächtnisses. Bitte besorgen Sie sich die Filmdoku "Rumble – The Indians Who Rocked the World" (2017), dann verstehen Sie, was ich meine. Die Kulturwissenschaft untersucht die Einflüsse afroamerikanischer Künstler auf die Popmusik. Kaum bekannt hingegen sind indigene Musiker wie Charlie Patton (1891–1934), der die Musik seiner Cherokee-Vorfahren in das von ihm mitgeprägte Blues-Genre einfließen ließ. Die Jazzsängerin Mildred Baily (1907–1951), von der US-Presse als erste "weiße" Ausnahme in der von Afroamerikanern dominierten Szene gefeiert, wuchs im Coeur d’Alene-Reservat im Bundesstaat Idaho auf. 

"Rumble" erzählt den Anteil indianischer Künstler an der US-Popmusik. Dabei geht es nicht nur um den familiären Hintergrund etwa von Gitarrengenie Jimi Hendrix, sondern auch um musikhistorische Tatsachen: Phrasierungen indigener Gesänge oder Trommelrhythmen formten Jazz und Blues. 

Womit wir beim Thema "cultural appropriation" (kulturelle Aneignung) wären, ein Begriff, der in meinen Augen zu sehr auf der psychologischen Ebene diskutiert wird. Im aktuellen FALTER versuche ich, die juristische und ökonomische Seite der cultural appropration zu beleuchten.

Es geht nicht darum, ob sich jemand in Anwesenheit Dreadlocks tragender oder Winnetou lesender Bleichgesichter unwohl fühlt, sondern darum, ob mit dem kulturellen Erbe Eigentumsrechte verknüpft sind. Wenn ich mich nicht irre. 

Ihr Matthias Dusini


Aus Dem Falter 1

FALTER-Herausgeber Armin Thurnher schrieb eine Ehrenrettung des Erzählers Karl May. Sein facettenreiches Porträt des fantasiebegabten Sachsen lesen Sie hier.


Buchtipp

Die Wiener Autorin Susanne Schaup hat 2021 eine sehr schöne, zu wenig gewürdigte Biografie über Henry David Thoreau veröffentlicht: Henry David Thoreau: Realist und Mystiker.


Falter Natur

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