Das Spiel der schwindelnden Könige - FALTER.maily #899

Simon Steiner
Versendet am 14.09.2022

Manche erinnern sich vielleicht noch an die Zeit des Kalten Krieges, als in Schachpartien wie Bobby Fischer gegen Boris Spasski die intellektuelle Überlegenheit der beiden Supermächte auf dem Spiel stand. Von diesen politischen Dimensionen ist heute keine Rede mehr. Und dennoch wird die Schachwelt von einem Skandal ungewöhnlichen Ausmaßes gebeutelt. Was ist passiert?

In Saint Louis, Missouri, fand in den vergangenen Tagen der Sinquefield Cup, ein großes Schachturnier, statt. Unter anderen dabei: Magnus Carlsen, fünffacher Weltmeister und als einer der besten Spieler überhaupt gehandelt. Er hält den Rekord für die meisten Spiele ohne Niederlage – unglaubliche 125 Partien in über zwei Jahren. Und auch bis zuletzt hatte der 31-Jährige eine Serie von 53 ungeschlagenen Partien. 

In der dritten Runde des prestigeträchtigen Turniers geschah es dann: Ausgerechnet der US-Amerikaner Hans Niemann, 19 Jahre alt und klarer Underdog, schaffte es, den norwegischen Goliath zu bezwingen und sorgte damit für große Aufregung. Denn Carlsen verkraftete das offenbar gar nicht gut. 

In einem Tweet erklärte er am nächsten Tag, sich aus dem Turnier zurückzuziehen. Ein bemerkenswerter Zug! Etwas dürfte Carlsen faul vorgekommen sein – einen konkreten Vorwurf erhob er jedoch nicht. Der Twitter-Nachricht heftete der Schachstar lediglich kryptisch ein Video von José Mourinho an: "Ich ziehe es vor, mich nicht zu äußern. Wenn ich mich äußere, bin ich in großen Schwierigkeiten", erklärt der Fußballtrainer darin.

Seitdem gehen in der Schach-Community die Wogen hoch. Carlsens Erz-Konkurrent Hikaru Nakamura unterstellte Niemann mehrfach, sich den Sieg erschlichen zu haben. Elon Musk retweetete das Gerücht, Niemann habe verbotenerweise vibrierende Analkugeln genutzt, um die richtigen Züge zu finden (mit Morsecode vielleicht?). Tatsächlich ist bekannt, dass Niemann als Kind in Online-Partien schummelte. Ist also etwas an den Anschuldigungen dran?

Betrugsvorwürfe im Schach sind so alt wie das Spiel selbst. Im 11. Jahrhundert ließ der englische König angeblich einen dänischen Adeligen wegen eines Schach-Disputs ermorden. Bobby Fischer bezichtigte 1962 das sowjetische Team, sich über Ergebnisse untereinander abgesprochen zu haben. Und auch in der jüngeren Vergangenheit gab es hier und da Vorfälle, wo ein Großmeister mit einem Handy auf der Toilette erwischt wurde.

Heute ist Schummeln in der Schach-Community besonders geächtet. Schließlich ist es das Spiel, in dem allein die eigenen Fehler über Sieg und Niederlage entscheiden sollen. Wer betrügt (und sich die klar überlegenen Schach-Computer zunutze macht), dessen Ruf ist nachhaltig ruiniert. 

Mit Anschuldigungen sollte man also eigentlich sparsam umgehen. Und wenn, dann nur mit stichhaltigen Beweisen untermauert. Dennoch schweigt Carlsen seit seinem mysteriösen Abzug vor über einer Woche. Der Betrugsvorwurf schwebt indes im luftleeren Raum. Der oberste Schiedsrichter des Sinquefield Cups erklärte in einem Statement, keine Hinweise auf Regelverstöße gefunden zu haben. "Wenn sie wollen, dass ich mich nackt ausziehe, dann werde ich das tun", beteuerte Niemann, der das Turnier schließlich als siebter von (nunmehr) neun beendete.

Er fordert nun eine Entschuldigung. Auch der sowjetisch-russische Weltmeister Garry Kasparov kritisierte Carlsens Vorgehen lautstark. Was auch immer an den Vorwürfen dran sein mag – und darüber wird man wohl noch lange streiten – eines ist klar: Magnus Carlsens Verhalten ist eines Schachweltmeisters unwürdig, meint

Ihr Simon Steiner


SKANDAL 1

Rinder, die in Jauche versinken, abgemagerte Lämmer und überall Tierleichen in allen Verwesungsstadien: Zustände wie diese kommen in österreichischen Landwirtschaften leider immer wieder vor. Was an dem Fall, den Gerlinde Pölsler für den aktuellen FALTER beschrieben hat, besonders schockiert, ist, dass die Behörden seit fast zehn Jahren über das schier unfassbare Tierleid an einem niederösterreichischen Hof Bescheid wissen. Warum sie untätig blieben, lesen Sie hier.


SKANDAL 2

Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erheben weitere Vorwürfe gegen den Filmemacher Ulrich Seidl. Er hätte nur Buben aus zerrütteten Familien casten wollen, erzählt ein Informant, der anonym bleiben möchte. Dass es in dem Film um Pädophilie geht, sei den Laiendarstellern (Kinder zwischen 9 und 16) und ihren Eltern bewusst verschwiegen worden, erzählt eine weitere Informantin. Lina Paulitsch hat recherchiert.


FALTER.morgen

Wie es sich anfühlt, wenn die Energierechnung deutlich höher ausfällt als zuvor, wissen wir mittlerweile alle. Was es mit einem macht, wenn der Energielieferant plötzlich das Zehnfache will, hat die Wienerin Eva G. im aktuellen FALTER.morgen geschildert.


Videotipp

Keine Kandidaten aus den Traditionsparteien, dafür eine Reihe von "Anti-Establishment-Kandidaten" und keine einzige Frau am Wahlzettel: Barbara Tóth erklärt in diesem Video, warum die heurige Bundespräsidentschaftswahl das postdemokratische Zeitalter in Österreich einläutet.


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