Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
Es ist rund 25 Jahre her, dass ich Christian Reiter das erste Mal zuhören durfte. Ich absolvierte während meines Studiums ein Gerichtsjahr am Bezirksgericht Josefstadt und durfte deshalb das (für die Öffentlichkeit nicht zugängliche) "gerichtsmedizinische Museum" im Schatten des Josephinums besuchen, ein schaurig-faszinierender Ort.
Man sieht dort rund 2000 meist von sanitätspolizeilichen und gerichtlichen Leichenöffnungen stammende Präparate, die den plötzlichen Tod durch Gewalt (samt den dabei gebrauchten Tatwerkzeugen) oder den plötzlichen Tod durch natürliche Ursache anschaulich machen (ein exzellenter Bildband ist hier zu erwerben).
Es gab in diesem Panoptikum des Todes eingerexte Menschen zu sehen, zu Wachs erstarrte Wasserleichen, aufgespannte Menschenhäute (etwa die Haut eines japanischen Matrosen) und die Mumie einer kleinen Frau, die irgendwann im 18. Jahrhundert verstorben und ausgetrocknet war.
Inmitten des "Ausstellungsgutes" stand der Gerichtsmediziner und Uniprofessor Dr. Reiter im weißen Mantel und klärte auf. Die Ärzte sammelten all die Leichenteile zu wissenschaftlichen Zwecken, weil sie die Studenten darüber unterrichten mussten, wie man Verbrechen aufdeckt. Aber manchmal wohl auch, weil die Objekte einfach schön waren, wie Reiter ausführte.
Die Mumie der kleinen Frau etwa, so erfuhr ich später, wurde auf einer Gstettn gefunden, ungefähr dort, wo heute die U6 in die Station Nussdorfer-Straße einfährt. Sie tropft noch heute, wenn die Sonne sie wärmt. Warum? Weil eine Mumie im Grunde nichts anderes als Speck sei, so Dr. Reiter, nämlich getrocknetes Fleisch. Das verbliebene Fett wird flüssig, wenn es in der Sonne liegt. Und das "riecht nach Salami".
Schon damals faszinierte mich Reiter mit seiner sehr morbiden, aber nie respektlosen Sprache, weil er mit den Mitteln der Wissenschaft Verbrechen klärte, aber auch mit trockenem Schmäh über die Wiener Seele zu berichten wusste. Dass Menschen innen drinnen "wie ein Pfadfinderlager" riechen oder Leichen sich auch mal am Seziertisch aufsetzen und zwar mit den Worten "Sads deppert?", das erfährt man nur durch ihn.
Reiter obduzierte nicht nur die Opfer der spannendsten Kriminalfälle der Republik, etwa die Morde der Elfriede Blauensteiner und die 47 Tötungen der Lainz-Schwestern, sondern er widmete sich auch historischen Fällen. Dem tragischen Sterben Ludwig van Beethovens, dem Suizid der Geliebten von Kronprinz Rudolf, Mary Vetsera, oder dem "ausgestopften" Afrikaner Angelo Soliman, einem am Hof Josephs des Zweiten lebenden Freimaurer.
Immer wieder führte Dr. Reiter mir vor Augen, wie unerwartet Gevatter Tod nach einem greift. Als ich einmal für ein Ö1-Hörbild im Seziersaal erscheinen durfte, fragte ich ihn am Tag vor der Obduktion, welches Opfer wir sezieren würden. Der Professor erwiderte in sachlichem Ton: "Das wissen wir nicht, denn die Person lebt noch". Und so war es auch. Der Wirt, der auf Reiters Tisch lag, fiel nur wenige Stunden vorher um. Herzinfarkt.
Schon vor Jahren verspürte ich einen großen Wunsch: Ich wollte all die Geschichten, Fälle, aber auch historischen Akten, über denen Reiter brütete, für die breite Öffentlichkeit zugänglich machen und seinen Wortwitz obendrein. Drei Jahre wälzten wir daher im FALTER den Plan, einen sehr wienerischen, sehr morbiden, manchmal auch lustigen, aber stets der Wissenschaft verpflichteten True-Crime-Podcast aufzunehmen (für jene, die Podcasts noch nicht kennen: es ist Radio on Demand).
Vergangene Woche waren wir nach monatelangen Vorbereitungen endlich fertig und starteten die erste Staffel auf falter.at/gerichtsmedizin und auf allen Plattformen, auf denen man Podcasts hören kann.
Der Wiener Liedermacher Ernst Molden komponierte den Soundtrack, meine Kollegin Miriam Hübl führte Regie (und lehrte mich, wie man einen Podcast skriptet), Georg Schober hatte die Aufnahmeleitung. Und Christian Reiter nahm seine Akten mit und erzählte und erzählte.
12 Folgen von "Klenk + Reiter. Der FALTER-Podcast aus der Gerichtsmedizin" haben wir produziert und jeden Freitag senden wir eine davon. Die erste Folge ist online - klicken Sie hier, um sie in voller Länge anzuhören. Abonnieren Sie unseren Podcast gerne auch auf Apple Podcasts oder Spotify. Und schreiben Sie uns, ob er Ihnen gefallen hat.
Viel Vergnügen beim Hören wünscht
Ihr Florian Klenk
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