Ich bin trypophob

Lukas Matzinger
Versendet am 16.10.2022

Es ist Zeit, mich jemandem anvertrauen: Ich bin trypophob. Bekennend und selbstattestiert, sonst macht das ja keiner. Trypophobie ist ein von der Mehrheitsgesellschaft missachtetes Leiden, nämlich (da gibt es jetzt nichts zu lachen): die körperliche Abscheu vor unregelmäßigen Lochmustern.

Jahrelang hatte ich angenommen, dass ich einfach einen kleinen Huscher habe und mich deshalb der Anblick von Schwämmen, Bienenwaben oder Luftschokolade so beklemmt, dass ich mir die Haut abziehen möchte. Bilder wie diese (Googeln Sie, damit ich es nicht tun muss) zeitigen bei mir verlässlich ein Gemisch aus Ekel, Erschaudern und Fluchtdrang.

Eines schönen Tages beim Formel-1-Schauen aber hat mir der Kommentator (Ernst Hausleitner sagt, er war es nicht) die Offenbarung gemacht: Dem mexikanischen Fahrer Sergio Pérez mache seine Trypophobie derart zu schaffen, dass er die Reifenstapel am Streckenrand nicht anschauen könne. Plötzlich hatte mein Problem einen Namen, ich war nicht mehr allein.

Und lernte: 46 von 286 zufälligen Studienteilnehmern haben 2013 den Anblick von Lochmustern kaum ertragen, das wären epidemiologisch etwa 16 Prozent Trypophobiker. Die Forscher vermuteten einen unbewussten Reflex als Ausdruck biologischen Ekels. Ich wähnte mich unter evolutionärem Schutz vor Pocken, Würmern, Insektenfraß. Wirklich beleuchtet ist unsere Pein aber noch nicht, und längst keine anerkannte Angststörung.

Ohne die Verbreitung des Internets wäre jene der Trypophobie wahrscheinlich nie aufgefallen. Erst online fanden verschiedene Betroffene mit derselben seltsamen Symptombeschreibung zur Schicksalsgemeinschaft zusammen. Am 23. Mai 2005 hat eine irischen Bloggerin den Begriff erfunden, heute gibt es reichhaltige Beispielbilder und Selbsthilferatgeber.

Mir persönlich reicht das nicht. Wann beginnen Trypophobikerverbände (Slogan "Wir pfeifen aus dem letzten Loch") endlich für meine Rechte einzustehen: Triggerwarnungen auf Kaffeeschaum, Anketten vor Lotusblumen-Importeuren, Canceln des Tiroler Alpenquintettes für „Mei Huat, der hot drei Löcher.“

Trypophobiker aller Länder, vereinigt euch!

Ihr Lukas Matzinger


Herbstmusik

Wenn wir schon bei Bekenntnissen sind: Ich bin Fan des englischen Popmusikers Morrissey. Obwohl der Weltschmerz, der diesen einnehmenden Sänger aus ihm gemacht hat, auch Rassismen zutage fördert. Vor einer Woche habe ich Morrissey in seiner Heimat Manchester gehört und eine Reportage über all das geschrieben. Hier zwei bezaubernde Lieder (von ihm und seiner Band The Smiths), die vielleicht noch nicht ganz jeder kennt.


Zum Nachlesen

Nach dem Ibiza-Skandal wollte die Regierung Österreichs "Boulevarddemokratie" den Garaus machen. Das ist ihr nur zum Teil gelungen, wie Barbara Tóth hier analysiert.


Zum Hören

"Den Europäern ist noch immer nicht klar, was es heißt, dass sie im Krieg mit Putins Russland stehen", warnt der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Im FALTER-Radio liefert er einen schonungslosen Ausblick auf die Weltwirtschaft unter den Bedingungen von Krieg, Inflation und geopolitischen Verwerfungen. Das Interview wurde vom Journalisten Misha Glenny im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien geführt.


Aus dem Verlag

Mit Büchern aus dem Falter Verlag lässt sich Wien besonders gut erkunden. Nach Geheime PfadeFaszinierende Wege und Verlockende Oasen, ist nun Bezaubernde Ziegel von Viola Rosa Semper von Charlotte Schwarz erschienen, das Urbanistinnen und Architekturinteressierte zu den schönsten Backsteinhäusern und Sichtziegelbauten der Stadt führt. Viel Spaß beim Entdecken!

Anzeige

Im Frühjahr 1993 isst eine Bauernfamilie aus dem Weinviertel zu Mittag Kaiserschmarrn und Apfelmus. Wenige Tage später ist eines der Kinder tot. Was ist geschehen?

In der zweiten Folge von “Klenk+Reiter. Der FALTER-Podcast aus der Gerichtsmedizin” sprechen FALTER-Chefredakteur Florian Klenk und der Gerichtsmediziner Dr. Christian Reiter darüber, wie vermeintlich Harmloses zum Tod führen kann und wie sicher unsere Lebensmittel wirklich sind.

Jeden Freitag neu auf falter.at/gerichtsmedizin und überall dort, wo Sie Podcasts hören.

Foto: Christopher Mavrič


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.maily-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

"FALTER Arena - Journalismus live" - Baumann/Klenk/Niggemeier/Thür - 1. Oktober, Stadtsaal
Diskussion zum Thema "Lügenpresse? Die Vertrauenskrise des Journalismus"