Gestatten, der libertäre Autokrat

Barbara Toth
Versendet am 19.10.2022

Gestern Abend musste ich mich durch ein 454 Seiten langes Geständnis lesen, das Österreichs Politik noch einige Zeit lang beschäftigen wird, vor allem die ÖVP. Die Aufarbeitung der erstaunlichen kurzen Ära Sebastian Kurz (2017-2021) beginnt gerade erst (Florian Klenk fasst die neuesten Entwicklungen in diesem Video zusammen).

Dafür musste ich mein derzeitiges Lieblingsbuch zur Seite legen, das sich mit einem noch andauernden und noch wichtigeren Phänomen befasst: der Querdenker-Bewegung. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, beide vom Fach Soziologen, haben viele Tiefeninterviews geführt, sich in alternativen Medienkanälen umgeschaut und Online-Umfragen gemacht und kommen zum Schluss, dass in den letzten drei Pandemie-Jahren ein neuer "Ismus" entstanden ist, den sie "libertären Autoritarismus" nennen.

Das klingt wie ein Widerspruch. Wer libertäre, also freiheitsliebend ist, kann doch nicht gleichzeitig autoritär sein? Doch, argumentieren die beiden. "Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, würden sich selbst nicht als Rechte oder Autoritäre bezeichnen. Oft wurden sie links oder liberal sozialisiert, Selbstverwirklichung und Kosmopolitismus sind wichtige Werte für sie. Mittlerweile tragen sie jedoch ein so absolutes Freiheitsverständnis vor, dass wir einen Drift ins Autoritäre beobachten können.

Wir sehen aber keine Identifikation mit einem starken Führer wie beim klassischen Autoritären. Es gibt auch keinen Hang zu konventionellen Werten. Was wir aber gefunden haben, ist autoritäre Aggression gegenüber Personen und Institutionen, die angeblich ihre individuellen Freiheitsrechte missachten", erklärt es Caroline Amlinger im Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Für mich erklärt das sehr gut, was ich auch in meinem persönlichen Umfeld erlebt habe. Um es mit den Worten Oliver Nachtweys zu sagen: "Wir haben nicht den klassischen Konservativen gefunden, der auch mal zu autoritären Ideen neigt, sondern Leute, die von progressiven Ideen kommen und über die politische Dynamik dann immer schneller nach rechts gehen. Das meinen wir, wenn wir von "Drift" sprechen."

Und was bedeutet dieser "Drift" für unsere Demokratie? Nichts Gutes. Libertäre Autoritäre misstrauen der Politik, sie orten ein vermeintlich "linksliberale Establishment", ja sogar quasi diktatorische Züge, analysieren Nachtwey und Amlinger. Sie lesen Krisen – Energiekrise, Klimakrise, Pandemie – nicht als gesellschaftliche Konflikte, sondern als individuelle Angelegenheiten. Ihr Blick auf die Welt ist fragmentiert, die großen Zusammenhänge fehlen. Klassendenken? Kapitalismuskritik? Solche emanzipatorische POVs (Point of View, aka Sichtweisen) erreichen sie nicht mehr.

Ihre Barbara Toth


Talk of Town

Bereits 15 Vernehmungen von Thomas Schmid soll die WKStA bereits vorgenommen hat. Gegen wen er aller ausgesagt hat und was, haben wir im heutigen FALTER.morgen für Sie zusammengefasst.


Videotipp

Was bedeuten Schmids Aussagen für die Beschuldigten? Sitzt Sebastian Kurz bald auf der Anklagebank oder muss er womöglich sogar ins Gefängnis? Was da noch alles auf die ÖVP und ihre Netzwerke zukommen, erklärt Florian Klenk im Gespräch mit Raimund Löw in diesem Video. Wer lieber zuhört, kann den Talk auch im FALTER-Radio anhören!


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