Warum ich so gern Dschungelcamp schaue - FALTER.maily #1001

Lukas Matzinger
Versendet am 27.01.2023

Am Sonntagabend wird der Wahlkampf enden. Nach zweieinhalb Wochen harter und teils schmutziger Auseinandersetzungen bekommt ein Teil der Bevölkerung eine neue Regentin. Damit jetzt kein falscher Eindruck von mir entsteht: Die Niederungen der niederösterreichischen Landespolitik sind mir zu heftig, ich rede vom RTL-Dschungelcamp.

Gerade läuft die 16. Staffel, etwas mehr als 3,5 Millionen Menschen schauen jeden Abend zu, beim Finale am Sonntag werden es mehr sein. Das Dschungelcamp, das vor 19 Jahren noch Medienwissenschaftlern, Kirchenvertretern, Tierschützern und der FDP das Ende der Zivilisation bedeutete, ist heute von der BILD- zur FAZ-Materie geworden.

Und zwar sicher nicht wegen der täglichen Ekelprüfungen, das Runterwürgen von Kamellungen und Bäder in 50.000 Mehlwürmern sind das Erkenntnisärmste an dieser Show. Der niedere Instinkt der Schadenfreude hat 19 Jahre Show nicht überlebt, bei den Prüfungen greifen Stammzuseher heute gelangweilt zum Handy.

Es reicht auch nicht der Umstand, dass das handwerklich bestens gemachtes Fernsehen ist. Mit welcher Detailliebe RTL Gespräche gegeneinander schneidet und die Moderatoren ihre Pointen inszenieren, ist nicht Trash-, sondern Class-TV. Aber das macht die Faszination nicht aus, es lässt sie nur schöner argumentieren.

Im Kern sind diese zwei Wochen im Jänner kleine Heldenreisen, von der Geburt bis zur Hinrichtung. Am Anfang entsprechen die leidlich bekannten zwölf Apostel noch ihren zugedachten Rollen: Der impulsintellektuelle Ex-Stripper Gigi Birofio über den Fallschirmsprung ins Camp: "Ich liebe Sachen, wo man kurz stirbt, und dann doch noch lebt." Als die Gruppe darbend Opossumfleisch zum ersten Abendmahl empfängt, sagt das vegane Fotomodell Tessa Bergmeier: "Lasst es uns beerdigen!“ So weit, zum Schmunzeln.

Aber nun sitzen diese Leute, die alle schöne Leben gewöhnt waren, im australischen Urwald, gepfercht unter Fremden, mit stechendem Hunger. Früher, als ihnen lieb ist, schwinden die Darstellungskräfte, und das Menschliche tritt zu Tage: Djamila Rowe, die wegen einer erfundenen Affäre mit dem Schweizer Botschafter bekannt wurde, erinnere das Camp an die DDR, wo sie im Jugendwerkhof Crimmitschau zwangsarbeiten musste. Aber immerhin sei sie im Dschungel nicht so einsam wie draußen, als Single Mitte 50.

Der "Mann von" und "Sohn von", Lucas Cordalis, vergisst bald seinen Vorsatz des Sonnenscheins und Campverbinders, wenn er seinen Schönheitsschlaf der gemeinnützigen Nachtwache vorzieht. Es geht um Moral, um bis zu biblische Bildnisse: Wenn die zwei Italiener Cosimo und Gigi vor der Versuchung stehen, entweder vier Eier für alle mit ins Camp zubringen oder sich fernab eine ganze Pizza zu teilen.

Das sind die Momente, über die man hinterher reden will, mit anderen anonymen RTL-Schauern im Büro. Es bleibt Voyeurismus, aber für die Momente des Menschlichen. So wirkt das Dschungelcamp 2023 wie ein ehrliches Anti-Instagram: Auf der Rückseite des Glitzers ist man ungeschminkt, ungeschützt, in ungünstigen Lagen. Wie schön.

Ihr Lukas Matzinger


Gusto?

Falls Sie auf den Geschmack gekommen sind, läuft heute ab 21.30 Uhr die vorvorletzte Folge des Dschungeljahres auf RTL. Dass die hauseigene Streamingplattform "RTL-now" auch unter der Domain www.RTL-nau.de erreichbar ist, lässt sich als niederschwelliger Zugang interpretieren.


Wunderbare Dschungelmusik

Eine Delikatesse der Show ist der Einsatz von stimmungs- und textmäßig treffender Einspielmusik. Hier einige Lieder, die in der heurigen Ausgabe Verwendung fanden. Sie werden überrascht sein.


FÜR KURZENTSCHLOSSENE

Im Palais Eschenbach steigt heute die Lange Nacht der Podcasts. Auf der großen Bühne moderiert Raimund Löw ab 20:30 einen Live-Podcast über die aktuelle innenpolitische Lage. Zu Gast sind Sigrid Maurer (Klubobfrau, Grüne), Stephan Löwenstein (FAZ), Eva Linsinger (Profil), Barbara Blaha (Momentum-Institut) Eva Konzett (FALTER) – und vielleicht Sie? Alle Infos zum Event finden Sie hier!


Buchtipps

In der jüngsten Folge des FALTER-Buchpodcasts ist Judith Holofernes zu Gast. Petra Hartlieb spricht mit der ehemaligen Sängerin von "Wir sind Helden" übers Schreiben und Musik, übers Erwachsen- und Älterwerden, über Erfolg und Scheitern, über eigene Träume und "Die Träume anderer Leute", wie auch ihr jüngstes Buch heißt. Hier können Sie die ganze Folge anhören, Buchtipps von Klaus Nüchtern inklusive!


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