Die Möglichkeit von Solidarität - FALTER.maily #1003

Klaus Nüchtern
Versendet am 30.01.2023

Auf dem Pissoir meines damaligen Post-Redaktionsschluss-Stammwirten hingen vor vielen Jahren kleine Plakate, auf denen sich österreichische Fußballspieler – eher legendär als noch aktiv – dazu bekannten, ihre Frauen nicht zu hauen. Zugegeben, ich hab das jetzt etwas schlichter formuliert, als es sich darstellte, aber im Wesentlichen lief es auf die Message hinaus, dass Gewalt gegen Frauen uncool ist.

Seinerzeit empfand ich die Kampagne als doppelt daneben. Zum einen fand ich es nachgerade peinlich, dass jemand sich für etwas dermaßen Selbstverständliches ausspricht; zum anderen hatte ich substantielle Zweifel an der intendierten Wirkung: Ein Typ, der hin und wieder seine Freundin/Frau verdrischt, erleichtert sich nach dem vierten Bier am Klo, liest das Plakat und denkt sich: „Oha, das ist offenbar gar nicht okay? Also, wenn der Toni Polster das sagt (richtiger Name ist mir bekannt, K.N.), dann lass ich es halt!" Das schien und scheint mir nicht sehr wahrscheinlich.

Dennoch würde ich besagte Kampagne heute etwas weniger hämisch beurteilen, weil ich zur Kenntnis nehmen musste, dass es mit dem, was ich als „allgemeinen Anstand" vorausgesetzt hätte, nicht weit her ist – jedenfalls nicht so weit, dass man ihn als „selbstverständlich" voraussetzen dürfte.

Mir ist schon klar, dass der Begriff Anstand ein bisschen „von Gestern“ ist und nach bigotter bourgeoiser Betulichkeit müffelt, aber er ist mir allemal lieber als die ebenso trendige wie anämische „Achtsamkeit“. Menschen, „die einen Anstand haben“ – so habe ich das jedenfalls immer verstanden –, wissen nicht nur, wie man welches Essbesteck verwendet und dass der Mann links von der Dame geht, sie behandeln ihre Mitmenschen einfach mit Respekt.

Im Zuge von MeToo wurden mir die Augen geöffnet. Natürlich habe ich gewusst, dass es „das alles“ gibt. Aber irgendwie dachte ich – naiv, blauäugig und vielleicht auch klassizistisch überheblich –, dass es „anderswo“ passiert. Dass der allseits bekannte und beliebte Verleger bei der Konferenz dann schon mal die Textur der Strumpfhose seiner Mitarbeiterin testen muss oder der Praktikantin im Nebenzimmer eine Rückenmassage aufdrängt, ich hätte es tatsächlich nicht für möglich gehalten. Und alle haben es gewusst.

Womit ich beim springenden Punkt wäre. Denn dieses „Alle haben es gewusst!“ ist in letzter Zeit vielfach zum Anlass genommen worden, einer ganzen Branche die Leviten zu lesen beziehungsweise mitunter etwas selbstergriffen einzumahnen, dass man nicht weiterhin wegsehen dürfe. Ja, eh. Ich würde freilich eine gewissenhafte Selbstprüfung empfehlen, bevor man seine Empörung öffentlich macht.

Genuine Selbsterkenntnis findet naturgemäß erst in dem Moment statt, in dem man etwas tut, was man sich nicht zugetraut hätte – im Guten wie im Schlechten. Aber narzisstisch nicht allzu verblendete Menschen mit halbwegs intakter Selbsteinschätzungskompetenz werden fähig sein, eine realistische „Hochrechnung“ des eigenen Verhaltens zu erstellen. Was hätte ich getan? Peinlich berührt weggesehen oder den Chef zur Rede gestellt? Und mit welchen Worten? „Herr Becher (richtiger Name ist mir bekannt, K.N.), ich glaube, der Kollegin ist das unangenehm“? Hätte ich mit der Betroffenen oder anderen Kolleginnen und Kollegen darüber gesprochen? Und im Anschluss daran, welche Vorgangsweise angeregt oder in die Wege geleitet? Wie hätte ich reagiert, wenn die von dem Übergriff Betroffene gesagt hätte, dass sie das Fehlverhalten ihres Vorgesetzten – aus welchen Gründen auch immer – nicht weiters thematisiert sehen möchte?

Nun kann man sich natürlich darauf hinausreden, dass man wegen eines vergleichsweise „leichten“ und eventuell auch einmaligen Vorfalles von Übergriffigkeit noch kein Fass aufzumachen brauchte. Wenn der Fall schwerer wiegt, wird’s aber keineswegs leichter. Das Gerücht, ein von mir geschätzter, als kompetent und freundlich erlebter Arbeitskollege würde seine Frau schlagen oder pädophilen Neigungen nachgeben, würde mir ausgesprochen großes Unbehagen bereiten. Ich würde es schlicht nicht wahrhaben wollen. Ganz sicher würde ich nicht zu dem inkriminierten Kollegen gehen und mich erkundigen, ob die Vorwürfe denn zuträfen. Würde es jemand anderes tun und der Beschuldigte das Gerücht entschieden zurückweisen, wäre ich vermutlich sehr bereit, ihm Glauben zu schenken. Und was würde ich tun, wenn die Frau eines guten Freundes innerhalb von wenigen Wochen mit einem blauen Auge daherkommt und erklärt, dass sie wo dagegengerannt sei und sich das andere mal beim Volleyballspielen verletzt habe? Würde ich meinen Freund zur Rede stellen: „Du, sag mal …“? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.

Dergleichen Prüfungen sind im richtigen Leben bislang an mir vorbeigegangen. Aber schon leichteren Herausforderungen zeigt man sich schon oft nicht gewachsen. Das Einzige, was dagegen hilft, sind Zivilcourage und Solidarität. Um beide Ressourcen ist es meiner Einschätzung nach nicht besonders gut bestellt. Anders kann ich mir jenes Szenario, von dem man immer wieder hört – und das, so würde ich die Gerüchtedichte jedenfalls interpretieren, offenbar gerade am Theater oder Filmset fröhliche Urständ’ feiert – nicht erklären. Der Chef / ein Regisseur macht jemand vor versammelter Mannschaft zur Sau. Und niemand reagiert.

Warum nicht? Die nicht unmittelbar Betroffenen haben dergleichen vielleicht selbst schon erlebt oder sind womöglich sogar froh, dass es diesmal nicht sie trifft. Nachvollziehbar, aber nicht sehr couragiert und solidarisch. Alle hätten Angst gehabt, heißt es dann. Ja, schon. Aber wovor genau? Was soll der Ungustl von Vorgesetztem denn machen, wenn ihm alle einen Baum aufstellen und am nächsten Tag nicht zur Probe erscheinen? Ist die Macht, über die jemand verfügt, nicht auch immer die Macht, die man ihm zugesteht? Und ist es mitunter nicht ohnedies erstaunlich, wie schnell man jemandem die Schneid’ abkaufen kann?

Ich will hier keineswegs das hohe moralische Ross reiten, sondern (auch mich selbst) ermuntern und an altbekannte Tugenden erinnern. Und deswegen zum Abschluss noch eine Anekdote, auf die ich nicht sonderlich stolz bin. Schauplatz der Handlung ist der Schanigarten meiner Stammkneipe. Am Nebentisch zwei Fortysomethings, die sich erfolgreich bemühen, dem Klischee des arschlochhaften Bankers zu entsprechen. Der eine labert frauenfeindlichen Stuss daher, der andere hört ihm geduldig zu. Ich muss das alles mitanhören. Ich sage nichts – weil ich dann ohnedies nur eine Gosch’n angehängt bekommen und mich ich erst recht nicht auf die Lektüre meines Buches konzentrieren können hätte.

Tatsächlich aber wäre es richtig gewesen, die perfide Male-Bonding-Veranstaltung – so lange niemand was dagegen sagt, ist es ja offenbar in Ordnung, so zu reden – zu stören und die beiden Früchterln darauf hinzuweisen, dass sie den misogynen Scheiß, den sie da verzapfen, für sich behalten sollen. Beim nächsten Mal dann. Hoffentlich.

Ihr Klaus Nüchtern


Was noch zum Kotzen ist

Bundespräsident Van der Bellen hat in der Rede zu seiner Angelobung festgehalten, dass sich der Holocaust nicht wiederholen dürfe, weswegen „wir alle sehr genau hinsehen und alles tun [müssen], um antidemokratische, die Würde der Menschen verletzende, autoritäre Tendenzen rechtzeitig und entschlossen zu stoppen.“ Alle Abgeordneten zum Parlament stimmen Van der Bellens Rede durch Applaus zu. Lediglich die gutgebräunten beleidigten Leberwürste der FPÖ bleiben sitzen und verweigern den Applaus. Der Präsident der israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, findet die richtigen Worte.


Zur Erinnerung

Alt, ein bissl pathetisch, aber schon in Ordnung, was Billy Bragg da singt (live in Vienna): „With our brothers and our sisters / Together we will stand / There is power in a Union".


Was mich freut

Auf Claire Keegans großartiges Buch „Kleine Dinge wie diese" habe ich bereits wiederholt hingewiesen – unter anderem auch durch eine ausführliche Rezension. Nun ist bekannt geworden, dass das schmale Buch auch verfilmt wird –  mit Cillian „Peaky Blinder" Murphy in der Hauptrolle.


Für den Oscar nominiert

Claire Keegans noch dünneres, aber ebenso großartiges Buch „Foster" ist bereits verfilmt worden, und zwar unter dem Titel „An Cailín Ciúin" („The Quiet Girl"). Es ist der erste Film in irischer Sprache, der für den Oscar nominiert wurde. Aus eben diesem Grund wurde auch die deutsche Übersetzung „Das dritte Licht" neu aufgelegt. Ich möchte es ebenfalls dringend zur Lektüre empfehlen.


Was das Herz weit macht

Wien im Schnee ist ein seltener und erhebender Anblick. Solange das noch geht, sollte man unbedingt einen entsprechenden Spaziergang unternehmen. Ich bin am Wochenende vom Cobenzl aus übers Angnesbründl und den tief verschneiten Hermannskogel bis zum Pözleinsdorfer Schlosspark gegangen – hauptsächlich deswegen, weil ich den Schwarzenbergpark in Neuwaldegg irgendwie verpasst habe. Egal. Schön war's – und ein bisschen anstrengender als angenommen (geht schon als Wanderung durch).


Was wärmt

Es empfiehlt sich, die oben empfohlene Wanderung mit anständigen Schuhen und winterfester Kleidung zu bestreiten. Sehr empfehlen kann ich die lammfellgefütterten Hirschlederhandschuhe von Schirme Brigitte. Die sind nicht eben umsonst, aber wirklich, wirklich warm – und auch ein tolles Geschenk.

Anzeige

So isst Wien

Als praktischer Guide zu kulinarischen Entdeckungen ist Wien, wie es isst seit über 40 Jahren unersetzlich. Das umfangreiche Nachschlagewerk enthält über 4000 Lokale von A-Z für jeden Anlass, jede Brieftasche, jede Uhrzeit, jede Laune, jeden Geschmack, für den kleinen wie den großen Hunger.

Auch diese Ausgabe ist kein Sterneverteiler und Haubenaufsetzer. Es ist ein Speise-Plan der Stadt

Erhältlich auf faltershop.at


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.maily-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!