Je suis SPÖ - FALTER.maily #1050
Bevor China die schlimmsten Seiten von Kommunismus und Kapitalismus zur Nationalphilosophie erhob, gab es dort einige interessante Denker. Huainanzi ...
Es kommt mir fast absurd vor: Noch vor knapp einem Jahr diskutierten wir über die Impfpflicht, der Lockdown für Ungeimpfte war in Kraft, und viele warteten auf eine Auffrischungsimpfung. Heute erklären Virolog:innen die Pandemie offiziell zur Endemie, Gesundheitsminister Johannes Rauch verkündete am 1. Februar quasi das Ende aller Maßnahmen, auch die Maskenpflicht für Gesundheitspersonal soll mit Ende April aufhören.
Was aber gleich geblieben ist: Wir haben noch immer nicht gelernt, wissenschaftliche Ergebnisse angemessen zu interpretieren, sehnen uns weiterhin nach einfachen Antworten.
Drei Thesen:
Wir ziehen weiterhin die falschen Schlüsse
Ein rezentes Beispiel: Die Zunahme der FPÖ nach der Wahl in Niederösterreich vergangenen Sonntag beschäftigt viele. Auch der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik sah sich die Ergebnisse an und fand eine Korrelation des Prozentsatzes der Covid-Geimpften und der Performance von FPÖ und ÖVP.
"Je geringer die Impfquote, desto stärker die FPÖ" titelte der STANDARD. Wer sich durch die Kommentare wühlt, stößt sogleich auf Fehlschlüsse, die oft gezogen werden: Impfkritische Menschen wählen die FPÖ. Die Wissenschaftskommunikatorin Christina Emilian nennt das ein typisches Beispiel für einen sogenannten "ökologischen Fehlschluss", also "wenn von Aggregatdaten auf Individualdaten geschlossen wird", schreibt sie mir.
Stellen wir uns vor, in einer Gemeinde leben 30 Prozent Christ:innen. Außerdem wählen 30 Prozent der Menschen dort die konservative Partei des Landes. Der Anteil der Christ:innen korreliert mit dem Anteil der Konservativen. "Bauchgefühlsmäßig könnte man in die Falle tappen und sagen: Christ:innen wählen die Konservativen. Dabei können wir aus diesen Informationen noch gar nicht wissen, ob das so ist!" meint Emilian. Vielleicht hat sogar keiner der Christ:innen die Konservativen gewählt. Man müsste sie einzeln befragen: Was ist Ihre Religion? Was haben Sie gewählt?
Wir können noch immer nicht mit Unsicherheiten umgehen
So wie heute Früh im Ö1 Morgenjournal. Moderator Franz Renner zitierte eine neue Meta-Analyse des Wissenschaftsnetzwerks Cochrane: Noch immer gäbe es keine wissenschaftlichen Beweise, dass Masken das Infektionsgeschehen eindämmen. Muss heißen, Masken tragen bringt nichts? Eigentlich besagt die Studie (die übrigens auch auf prä-pandemischen Zahlen beruht) nur, dass Daten fehlen oder nicht so brauchbar sind, so Komplexitätsforscher Peter Klimek.
Will man zwei Gruppen wissenschaftlich vergleichen, gleichen sich in einem Traumszenario alle Variablen bis auf eine. Ein Grund, warum die Genetik gerne auf eineiige Zwillinge zurückgreift. Nur: Bei Maskenträgern und Nicht-Maskenträgern ist das gar nicht so einfach. Aussagekräftiger sei es, Vergleiche auf Bevölkerungsebene zu ziehen. Und da sehe man sehr wohl, dass Maskentragen einen (nicht zu überschätzenden) epidemiologischen Effekt hatte, so Klimek.
Wir bringen die Rolle von Wissenschafter:innen durcheinander
Ein Virologe meinte mal, er bereue es, in den Hochzeiten der Pandemie Empfehlungen abgegeben zu haben: Lockdown ja/nein. Maske ja/nein. Die Grundidee der Wissenschaft ist es immerhin zu beschreiben, Entscheidungen müssen andere treffen (die Expertise dafür haben – oder auch nicht).
Oder wie es die Physikerin Sabine Hossenfelder ausdrückt: Die Wissenschaft sagt nicht, man solle nicht auf Hochstromleitungen pinkeln. Sie sagt nur, dass Urin ein exzellenter Leiter ist. Aber natürlich sehnen wir uns alle in Krisensituationen nach Orientierungshilfen, wollen schnelle und einfache Antworten. Und Wissenschafter:innen ließen sich ab und an auch dazu verleiten.
Dass sie selbst das beste Beispiel dafür sind, aus den letzten beiden Jahren zu lernen, sahen wir erst diese Woche: Da veröffentlichte die Österreichische Akademie der Wissenschaften die "Wiener Thesen" gemeinsam mit der Leopoldina, ihrem Pendant in Deutschland. Zwei davon: "Die Wissenschaft soll als ehrlicher Makler auftreten" und "Wissenschaft soll informieren, nicht legitimieren".
Ich wünsche Ihnen ein schönes, coronafreies Wochenende!
Ihre Katharina Kropshofer
Vielleicht graben Sie sich nicht so gerne durch wissenschaftliche Literatur. Mein Kollege Benedikt Narodoslawsky hat das diese Woche für Sie gemacht und noch dazu viele schöne Bilder dazugegeben. Was sie uns zeigen: Wie sich die Klimakrise bereits heute auf die Tierwelt auswirkt - zur Freude der einen und zum Nachteil der anderen. Im FALTER.natur-Newsletter (für den Sie sich hier kostenlos anmelden können) schreibt er übrigens über die "blue marble", die auch schon mal schöner war.
Ich empfehle Ihnen natürlich gerne die diversen FALTER-Podcasts, diese Woche zum Beispiel ein Gespräch mit einer meiner Jugendheldinnen: Die ehemalige Wir sind Helden-Frontfrau Judith Holofernes spricht über ihr neues Buch, über eigene Träume und die Träume anderer Leute.
Ich war außerdem fasziniert von den Ausführungen des Neurobiologen Dean Buonomano, der mit Ezra Klein über "Zeit" spricht. Ein verrückter Gedanke: Es ist möglich, dass Zeit nicht nur in der Vergangenheit existiert, sondern bereits in der Zukunft.
Meinen Kollege Martin Staudinger kennen Sie aus dem FALTER.morgen-Newsletter. In dieser Ausgabe hat er sich aber auch ans Papier gewagt und eine Geschichte über den Bellingcat-Schreiber Christo Grozev aufgeschrieben – die sofort international für Furore sorgte. Denn Grozev hat nicht nur den Mordversuch an Oppositionspolitikers Alexei Nawalny aufgedeckt, sondern musste nun selbst seine Wahlheimat Österreich aus Sicherheitsgründen verlassen. Die ganze Geschichte lesen Sie hier.
Nach einem Streit im Internet kamen der Bauer Christian Bachler und der Bobo Florian Klenk ins Gespräch: über Klimawandel, Fleischindustrie, Agrarpolitik, Banken und warum es sich lohnt, mit Leuten zu reden, deren Meinung man nicht teilt.
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