Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
Wenige Stunden nachdem die Nachricht von dem schweren Erdbeben Wien erreichte, passierte etwas Herausragendes: Hunderte Menschen packten Decken, Pullis, Windeln, Feuchttücher in Sackerl und brachten sie in die Deutschstraße 7 im 23. Wiener Bezirk.
Die Eventhalle Kösk, in der sonst Hochzeiten gefeiert werden, verwandelte sich innerhalb weniger Minuten in riesige Sammelstelle für die Betroffenen des Erdbebens.
"Ich bin Montag aufgewacht und hab in den Nachrichten gesehen, dass alle Gebäude eingestürzt sind und unter den Trümmern ein Kind 'Mama' ruft", sagt Uslucan Alim. Für den 27-Jährigen war sofort klar: Er wollte etwas tun.
Wenige Stunden später hatte er von einem türkischen Busunternehmen einen Kleinbus organisiert. Gemeinsam mit einem Freund postete er einen Aufruf auf Facebook: Alle, die spenden wollen, sollen die Sachen bitte vorbeibringen, es gibt einen Bus. Aus dem Bus wurden schließlich neun volle LKWs.
Günes gehört die Veranstaltungshalle Kösk, die sich innerhalb weniger Stunden in ein riesiges Spendensammelzentrum verwandelte: Um 14.50 Uhr schickte er am Montag den ersten Facebook-Aufruf raus. Zwei Stunden später fuhr der erste volle LKW Richtung Türkei los. Auch die LKW-Fahrten sind Spenden von Unternehmen, die den Aufruf gesehen haben.
"Als die ersten Autos ankamen, haben die meisten gleich gesagt, was kann ich machen, wo kann ich helfen", sagt Ümit Günes. 700 Leute packten bis Dienstagabend über 10.000 Kartons. Jacken für Kinder in den einen, Windeln in einen anderen, alle Spenden wurden von den Helfenden sorgfältig sortiert.
Nur rund 24 Stunden nach dem ersten Posting schreibt er auf Facebook bereits: Bitte vorerst keine Spenden mehr bringen, alle LKWs sind voll. Allein während er erzählt, läutet sein Telefon fünf Mal. Alle wollen fragen, was sie noch tun können, bieten Hilfe an.
Die türkeistämmige Community in Wien ist groß. Allein rund 75.000 Wiener·innen sind in der Türkei geboren. Was sich hier in der Hochzeitshalle von Günes inmitten des Industriegebietes des 23. Bezirks in den vergangenen Tagen abspielte, zeigt die große Solidarität und Verbundenheit.
Günes selbst sei Kurde, kein Türke sagt er. Politisch engagiert habe er sich aber nie. "Gerade ist das alles sowieso nebensächlich. Es kommen alle, um zu helfen. Kurden, Aleviten, Araber, Österreicher, also autochthone, Serben." Eine solche Solidarität hätte er noch nie erlebt, sagt er. Trotz der Rivalitäten, die es zwischen Türken und Kurden gibt.
Es blieb nicht nur bei der Sammelstelle im Kösk. Etwa vier Kilometer weiter hat Mehmed Deger seine Lager- und seine Hochzeitshalle zur Verfügung gestellt, auch dort füllen hunderte Helfende Mittwochnachmittag den sechsten LKW.
Vor der Halle stehen immer noch Autos mit Spenden. Ein Mann ist mit seinem Taxi gekommen, das er sonst fährt. Sein Kofferraum ist voller Windeln und Babybrei. Wer noch helfen möchte: Heute Abend wird in der Heizwerkstraße 6b wieder sortiert.
Bei Uslucan und Günes ist die Halle erst mal wieder leer. Sie warten auf weitere Informationen aus der türkischen Botschaft. Die hat Dienstag Früh von der riesigen Spendenaktionen gehört und sich um alle nötigen Papiere für die LKWs gekümmert. "Sollten wir noch mehr liefern dürfen, wir sind bereit", sagt Uslucan.
Eine Liste, wo Sie helfen oder spenden können, hat übrigens Naz Kücüktekin beim Kurier zusammengetragen.
Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen
Ihre Daniela Krenn
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