Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
Ein paar hunderttausend Menschen im Land werden heute wachbleiben oder aufstehen, um ab 00:30 Uhr das Finale der US-amerikanischen Football-Meisterschaften zu schauen. Football ist eine eigentümliche Mischung aus Athletik und Taktik, von drei Stunden Bruttozeremonie ist der Ball nur etwa elf Minuten lang in schnellen, harten Spielzügen unterwegs. Auch in Österreich ist der Super Bowl zum Event geworden: Im Marriott-Hotel, im Hard Rock Café und in der Marx Halle wachsen die Public-Viewing-Feste, stilecht mit Essens-Flatrate. Nun ein paar erste Häppchen, um die Ausmaße der jährlichen Weltvorführung Super Bowl zu begreifen:
Die Football-Finalspiele von 2010 bis 2017 sind die acht meistgesehenen TV-Sendungen der US-amerikanischen Geschichte (danach kommt die letzte Folge der tragikomischen Serie M*A*S*H aus dem Jahr 1983.) An die 100 Millionen Menschen schauen dort drüben jedes Jahr zu – also fast jeder dritte. Trotzdem sinkt die Quote in der Heimat seit einigen Jahren dahin, in Österreich ist's andersrum: In einer Februarsonntagnacht schaffte Puls4 vor einem Jahr insgesamt 487.000 Zuschauer.
Die US-Football-Liga NFL ist zweigeteilt, im Super Bowl spielen die besten Teams der beiden Divisionen gegeneinander. Heuer sind's die Philadelphia Eagles und die Kansas City Chiefs. Deren Gründer Lamar Hunt hat 1967 die Wortmarke Super Bowl erfunden, nachdem er seine Tochter mit einem Gummiball namens Super Ball spielen sah. Das Finalstadion in Glendale, Arizona, liegt wieder recht südlich, weil es dort im Februar nicht so kalt ist. 70.000 Sitze sind Muss-Bestimmung, Schwarzmarktkarten haben um die 10.000 Dollar gekostet.
Die USA begehen heute die zweitgrößte Völlerei nach Thanksgiving. Laut dem Chicken Wing Report 2020 des National Chicken Council (NCC, gibt es wirklich), essen Landsleute am Super-Bowl-Wochenende 1,4 Milliarden Chicken Wings. Die zugeführte Nahrung muss aber auch irgendwann wieder raus: Zu Beginn der Halbzeit verbrauchen die USA wegen gleichzeitiger Toilettengänge erheblich mehr Wasser.
Die Musikeinlagen in der Halbzeit sind ein eigenes Pop-Forschungsfeld. 1967 hat die Blaskapelle der University of Arizona angefangen, heuer ist die barbadische R&B-Sängerin Rihanna dran. Die Stars singen zwischen den Spielhälften gegen eine Aufwandsentschädigung, aber für empirisch belegte Verkaufsförderung. Seitdem Justin Timberlake 2004 (eher unabsichtlich) die Brust seiner Duettpartnerin Janet Jackson entblößte, übertragen prüde TV-Stationen die Oscar-Verleihungen und den Super Bowl mit fünf Sekunden Verzögerung, um bei solchen oder ähnlichen "Nipple Gates" schnell einzuschreiten.
Und dann noch die Industrie der Super-Bowl-Werbespots. Wer als CEO was auf sich hält, lässt zur größten Show des Landes einen eigenen Clip produzieren. Für 30 Sekunden Werbefläche haben Unternehmen voriges Jahr je 6,5 Millionen US-Dollar bezahlt. Bei der heurigen Übertragung wird Alicia Silverstone für den japanischen Internethändler Rakuten noch einmal ihre alte "Clueless"-Rolle auspacken. Die Komiker Ben Stiller und Steve Martin werden für zuckerfreies Pepsi Faxen machen.
Was Sie bei der ganzen USA-Idealisierung im Kopf behalten sollten: Österreich ist eine der besten Footballnationen der Welt (exklusive Nordamerika.) Die Vienna Vikings sind gerade Titelträger der European League of Football, das österreichische Junioren-Nationalteam ist 2022 zum sechsten Mal in Folge (!) Europameister geworden. Und der 1,98 Meter große Burgenländer Bernhard Raimann gehörte in der nun endenden NFL-Saison zum Stammpersonal der Indianapolis Colts.
Ihr Lukas Matzinger
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