Perspektivwechsel - FALTER.maily #1015

Gerhard Stöger
Versendet am 13.02.2023

MeToo hat die Welt verändert. Und zwar ausschließlich zum Besseren, wenn Sie mich fragen. Während die Bereiche Film- und Bühnenschauspiel vorübergehend kopfstanden und selbst die kuschelige "Piep, piep, piep, wir ham uns alle lieb"-Szene der Poetry-Slammer*innen irgendwann Übergriffigkeiten öffentlich machte, blieb es im Pop vergleichsweise relativ ruhig.

Im Sommer letzten Jahres aber wurde ein ziemlich überraschender Fall publik. Win Butler, Sänger, Gitarrist und Kopf der kanadischen Gruppe Arcade Fire, warfen gleich mehrere junge Frauen vor, sie massiv bedrängt, belästigt und letztlich missbraucht zu haben. Butler stritt die intimen Kontakte nicht ab, er hatte sie allerdings als einvernehmlich wahrgenommen. Seine Ehefrau und Bandkollegin Régine Chassagne – die beiden sind seit Butlers Theologie-Studium in jungen Jahren liiert – stellte sich in einem Statement ohne Wenn und Aber hinter ihn.

Ausgerechnet Butler, eine Hälfte des Traumpaars der alternativ gefärbten Popmusik, dachte ich mir; ausgerechnet Arcade Fire, die Band mit dem weltweit größten Heiligenschein abseits der steuerschonenden irischen Weltverbesserungsrocker U2. Eine Band, die wie keine Zweite im zeitgenössischen Pop für die Stärke des Kollektivs, die Transformation von Schmerz in Schönheit und humanistische Herzlichkeit steht. "Falscher Sauhund, elendiger!", lautete mein spontanes Urteil. "Kotzbrocken, verlogener!"

Nicht alles ist Gold, wo Arcade Fire draufsteht; zumindest zwei ihrer Alben strahlen aber doch eine in der Gitarrenmusik des 21. Jahrhunderts keineswegs alltägliche Magie aus. Nur: Müsste ich diese Platten im Lichte der Enthüllungen nicht konsequenterweise verschrotten? Schwierig, schwierig. Dann las ich einen so differenzierten wie schlauen Artikel, der eine simple Frage stellte: Was, wenn alle Beteiligten recht haben?

Was also, wenn die Sichtweise der Frauen stimmt, die sich vom berühmten Musiker benutzt, bedrängt, belästigt fühlten, ob im Moment des Geschehens oder durch die nachträgliche Reflexion darüber? Und was aber, wenn auch Butlers Wahrnehmung stimmt? Dass er diese Nähe zu weiblichen Fans, die auch körperlich wurde, als einvernehmlich empfunden und keine anderslautenden Zeichen bemerkt hat? Was aber hieße das nun, und wer beurteilt dann wann genau, was genau, wie genau? Welche Wahrheit ergibt die Zusammenschau dieser konträren Wahrheiten – und welche Rolle spielen bei alledem psychische Probleme und Krisenphasen seitens des Musikers?

Genau diese für unsere Zeit so untypische Form des wohlüberlegten Differenzierens zeichnet auch "Liebes Arschloch" aus, den neuen Roman von Virginie Despentes (eine ausführliche Rezension finden Sie im nächsten FALTER). Anhand dreier Personen, einer jungen feministischen Bloggerin, eines Autors und einer Schauspielerin, beide um die 50, erzählt das Buch von einem MeToo-Fall im französischen Literaturbetrieb. Despentes schafft eingangs scheinbar völlig klare Fronten, um durch schlaue Perspektivwechsel und den Blick in die Tiefe dann aber ein vielschichtiges Bild zu zeichnen.

Mit viel Drive geschrieben, ist "Liebes Arschloch" mehr als nur ein packendes Stück Literatur. Es liefert einen schlauen Debattenbeitrag zur Frage, wie umgehen mit gesellschaftlicher Polarisierung, Social-Media-Irrsinn, Shitstorm-Dynamiken und dem Abtauchen von Menschen in Blasen und Parallelwelten.

Veränderung ist möglich, sagt es, ins Gespräch zu kommen und zu bleiben, Gegensätze auszuhalten, Brücken zu bauen. "Liebes Arschloch" zeigt, dass selbst Menschen zu einer engen Freundschaft fähig sind, die einander ursprünglich durch den Austausch tiefer verbaler Faustschläge im Internet kennenlernen.

Weil Despantes aber ein alter Punk und keine Rosamunde Pilcher ist, macht ihr Roman auch klar, dass gewisse Gräben einfach zu tief sind – und dass das auch seine Berechtigung haben kann. "Als Erster-Schritte-Ratgeber ,How To Become a Mensch in the 21. Century‘ wäre ,Liebes Arschloch‘ durchaus brauchbar. Was kann man Besseres von Kunst sagen", urteilte die Süddeutsche Zeitung über das Buch. Ich möchte ihr nicht widersprechen.

Und meine Arcade-Fire-Platten? Die stehen nach wie vor im Regal, nur liegt nun ein Schatten über ihnen. "Kotzbrocken, verlogener!" war aber vermutlich nicht das angemessenste aller möglichen Urteile über den Musiker.

Ihr Gerhard Stöger


Zum Schauen

Virginie Despentes ist auch eine Meisterin der kleinen Details. So taucht im neuen Roman ein David-Bowie-Album auf. Nicht irgendeines freilich, sondern "Station To Station" von 1976, eine seiner stärksten Arbeiten, die im Ranking der besten Bowie-Platten aber nie ganz vorne landet. "It’s not the side-effects of the cocaine, I’m thinking that it must be love" heißt es im furiosen Titelstück – eine Zeile, die auch von Despentes’ tragischem Held, dem übergriffigen Autor, stammen könnte.

Mit einer gekürzten Fassung des eigentlich zehnminütigen Songs wirkte der britische Sänger 1981 in der Verfilmung des Berliner Heroin-Tristesse-Klassikers "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" mit. Treffen dort beim Konzert die Blicke Bowies und der jungen Christiane-F-Darstellerin Natja Brunckhorst aufeinander, bekomme ich heute ebenso Gänsehaut wie beim Erstkontakt mit dem Film in den 80er-Jahren.


Zum Hören

Auch David Bowie war Arcade-Fire-Fan. Es gab Mitte der Nullerjahre sogar gemeinsame Auftritte. Hier spielt er gemeinsam mit der Band deren frühen Hit "Wake Up", hier wiederum stehen ihm die Kanadier bei seinem eigenen Klassiker "Five Years" zur Seite.


Erinnerung an Burt Bacharach

Burt Bacharach ist vergangene Woche 94-jährig verstorben. Wie kein Zweiter vermochte der US-Komponist leichte Muße mit Tiefgang zu kombinieren. Einen kundigen Nachruf meines Kollegen Klaus Nüchtern finden Sie im kommenden FALTER, ich möchte Ihnen hier ein Bacharach-Album ans Herz legen, das Nüchtern vermutlich gar nicht kennt: 1971 sang die deutsche Schlagersängerin Marion Maerz eine Auswahl seiner Kompositionen mit deutschen Texten. 2009 folgte endlich ein CD-Reissue dieses Kleinods, das sie hier in ganzer Länge hören können.

Und dann möchte ich Ihnen noch vier Versionen meines Bacharach-Lieblingsliedes zeigen, "What The World Needs Now Is Now" von 1965; den Text verfasste wie immer sein kongenialer Partner Hal David. Zuerst hat Jackie DeShannon das Lied aufgenommen, die klassische Version stammt von Dionne Warwick, eine wunderbare freie und immer wieder aufs Neue rührende Aneignung von Tom Clay, einem US-Radio-DJ, dessen Interpretation ihm einen Eintrag in die lange Liste der One-Hit-Wonder bescherte. Den Meister selbst schließlich können Sie hier dabei erleben, wie er "What The World Needs Now Is Love" im Weißen Haus aufführt.

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