Piste, Pizza, Pilates. Putin - FALTER.maily #1022

Florian Klenk
Versendet am 21.02.2023

Vergangenes Wochenende habe ich in der FALTER-Redaktion ein vierstündiges Zoom-Interview mit einer ukrainischen Familie geführt. Der Krieg hat die Eltern und ihre Kinder in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Der Vater, ein Getreideproduzent, lebt in Kiew. Die Mutter ist mit einer Tochter nach Deutschland geflohen. Deren Schwester lebt mit ihrem Buben in Wien und bringt ihm Deutsch bei. Und der 18-jährige Sohn der Familie könnte bald zum Militär eingezogen werden. Männer im wehrfähigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen.

Die Familie erzählte über ihre Gewissheit, dass es nie Krieg geben werde. Sie lebte ein westliches Leben, liebte das Skifahren, Pizza und Pilates. Und dann kam Putin. Nun fürchtet die Mutter, dass der Bub bald an der Front kämpfen muss.

Die Gewissheit wurde am 24. Februar des vergangenen Jahres vernichtet. Der Vater sagte, nie im Leben hätte er gedacht, dass Russen seine Nachbarn derart massakrieren, überfallen und vergewaltigen würden.

Die Mutter erzählte, sie bekämpfte ihre Nervosität zunächst mit dem Rasenmähen im Garten, dann baute sie Molotow-Cocktails mit dem Sohn. Die Tochter schildert, wie sie sich von ihrem Freund verabschiedete, vielleicht zum letzten Mal. Nachdem ein Bekannter in den ersten Kriegstagen auf der Autobahn erschossen worden war, einfach so, entschlossen sich die Frauen der Familie und die Kinder zur Flucht im stockdunklen Zug nach Uschgorod.

Der Krieg, so sagt es der Vater, sei heute allgegenwärtig. Jeder habe irgendwen verloren. Ein Hotel, das er als Geschäftsmann gerne besuchte, sei durch eine Granate dem Boden gleichgemacht worden, die Landschaft verwüstet, Hunderttausende entwurzelt.

Kurz nach Kriegsbeginn habe man im Familienrat noch beschlossen, den Russen, wenn sie kommen sollten, alles zu geben. Die Kreise des Belagerungsringes um Kiew wurden enger und enger. Aber was, wenn die Soldaten auch seine Töchter hätten haben wollen?

Dass nur wenige Kilometer von seinem Haus entfernt die Okkupanten in Butscha ein entsetzliches Kriegsverbrechen begangen hatten, das wurde der Familie erst später bekannt. Der Vater sitzt beim Zoomen im verlassenen Kinderzimmer seines Enkelsohnes, der nun in Wien zur Schule geht. An der Wand die Kindertapete mit Luftballons.

Während wir das vier Stunden lange Gespräch führten – es erscheint demnächst im FALTER - hörte ich unten auf dem nahen Franz-Josefs-Kai Kuhglocken und Polizeisirenen. Es waren Demonstranten, die mit Trommeln, Schellen und Trillerpfeifen "Friede, Freiheit, keine Diktatur" riefen.

In der Hand hielten einige allen Ernstes Russland-Fahnen. Ich öffnete kurz das Fenster und schloss es schnell wieder, damit das Gebrüll nicht bis zum Großvater ins Kiewer Kinderzimmer hallt.

Ihr Florian Klenk


Aus dem FALTER I

Nina Branda reiste vergangene Woche in die Ukraine. Mitgebracht hat sie eine Reportage über zwei Familien aus der Leninstraße 10, Butscha, anhand derer sich das Schicksal der gesamten Ukraine ablesen lässt: Flucht und Okkupation, Überleben und Tod, Verlust und Neubeginn. "Jeder hat sich verändert", sagte ihr der Familienvater Girey Ismailov über den auslaugenden Kriegszustand, und: "Die Menschen haben keine Ziele und keine Perspektive mehr."


Aus dem FALTER II

Ein Jahr Krieg und kein Ende in Sicht? Die Ukraine sagt, der Krieg könne erst vorbei sein, wenn die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt ist. Und das inkludiert die bereits 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim. Warum Zwischenrufe, die Friedensverhandlungen fordern, wohl oft gut gemeint, aber nicht zielführend sind, erklärt Eva Konzett in dieser Analyse.


Der Krieg und die Natur

Der Krieg zerstört nicht nur menschliches Leben, sondern auch die Natur. Benedikt Narodoslawsky hat sich angesehen, wie Kriege unsere Umwelt ruinieren. Seinen lesenswerten Bericht finden Sie hier. Falls Sie in Sachen Natur auf dem laufenden bleiben wollen, abonnieren Sie doch unseren kostenfreien Natur-Newsletter. Hier einfach die Email-Adresse eintragen.


K-Pop

Lina Paulitsch hat sich diese Woche dem K-Pop-Hype gewidmet. Koreanische Boy- und Girlgroups erobern nicht nur die Herzen der Generation Z, sie sind auch ein gewaltiger Exportschlager der südkoreanischen Volkswirtschaft und nicht zuletzt ein Trumpf in der ebenso wichtigen Währung der kulturellen Soft Power. Große Leseempfehlung!


FALTER:WOCHE

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Podcast

Der Fall Leonie, der Fall Teichtmeister; völlig unterschiedlich gelagert, werfen sie doch ähnliche Fragen auf: Welche Antwort finden Justiz und Gesellschaft auf Sexualdelikte? Eva Konzett diskutiert das im FALTER Radio mit dem langjährigen Jugendrichter Norbert Gerstberger und dem Sexualtherapeut Peter Wanke (Verein Limes), der mit jugendlichen Sexualstraftätern arbeitet.

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Verstecktes Wien

Die Wiener Durchhäuser stellen sowohl eine historische wie auch architektonische Besonderheit dar, sind vielfach mit romantischen Innenhöfen versehen und werden von den Bewohnern gerne als Schleichwege und Abkürzungen genutzt. Zusammen mit charmanten versteckten Hinterhöfen und kleinen, stillen Gassln bilden sie geheime Pfade zu diesen versteckten Juwelen Wiens.

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