Mir niederösterreicht’s! - FALTER.maily #1044
Gräben zuschütten. Welch ein frivoles Wort, wenn wir uns vor Augen halten, welche Gräben da angesprochen werden. Nämlich jene ...
Heute möchte ich Ihnen die Geschichte eines jungen Journalisten erzählen. Es ist eine Geschichte, die mich seit zwei Monaten entsetzt. Sie handelt von Mortaza Behboudi, der in einem Gefängnis in Kabul sitzt, in Gewahrsam der Taliban.
Ich lernte Mortaza vor drei Jahren kennen, als Kollegen beim deutsch-französischen TV-Sender ARTE. Wir waren gleich alt, damals 25, und arbeiteten als Reporter für die Nachrichtensendung ARTE Journal in Straßburg. Im Elsass hat der Sender seinen Hauptsitz. Dort spricht man französisch, zehn Minuten sind es bis zum Rhein, der Grenze zu Deutschland. Es ist ein beschauliches Städtchen: viele Kinderwägen und Radwege, im Rücken die großen europäischen Institutionen.
Mortaza kam wie ein Wirbelwind in die Redaktion. Erst seit wenigen Jahren war er in Frankreich, beherrschte die Sprache fließend und hielt bereits Vorträge an der Uni in Paris. Mortazas Leben, das spürten wir alle, war weit von unserem entfernt. Er erzählte Geschichten aus Kriegsgebieten, von Verhaftungen, von seiner Flucht. Von einem Gefecht, in dem er angeschossen wurde.
Seinen Eifer schien das nur anzuheizen. Er war immer gut gelaunt, strebsam und bereit für den Anpfiff. Etwa als er innerhalb weniger Minuten exklusives Bildmaterial aus dem Iran auf die ARTE-Server schleuste. Bereits Ende 2019 wüteten dort Proteste, die sich an gestiegenen Benzinpreisen entzündet hatten. Und schon damals waren verifizierte Bilder Mangelware.
Mortaza wurde 1994 in Afghanistan geboren. Seine Eltern flohen vor den Taliban, als er zwei Jahre alt war. Im Iran erhielt die Familie Asyl und Arbeit in einem Ziegelwerk. Auch Mortaza begann dort mit sieben Jahren zu arbeiten. Mit zwölf saß er nachts in einer Teppichfabrik, untertags besuchte er die Schule.
Zum Studium ging er zurück nach Afghanistan und schrieb sich in Kabul für Politikwissenschaft ein. Nebenbei begann er seine Karriere als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und TV-Sendern. 2015 trat er erneut die Flucht an, er wurde wegen einer Recherche zu illegalem Opiumhandel verfolgt.
Mit der Hilfe von Reporter ohne Grenzen kam Mortaza nach Frankreich. An der Pariser Universität Sorbonne setzte er sein Masterstudium fort. Für ARTE lebte er wochenlang im griechischen Flüchtlingslager Moria, holte für die Investigativ-Plattform Mediapart afghanische Frauen vor die Kamera, die von ihrem stillen Kampf gegen das Regime erzählten. Seit August 2021 ist die Terrorgruppe der Taliban erneut an der Macht und verübt Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, Frauen sind vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Amnesty International belegt einen Massenmord an der schiitischen Minderheit der Hazara – ihr gehört auch Mortaza an.
Am 5. Jänner 2023 reiste der franko-afghanische Journalist nach Kabul, um eine Reportage zu drehen. Knapp 48 Stunden später, als er seine Presseakkreditierung abholen wollte, wurde er festgenommen. Spionage lautet der offizielle Vorwurf.
Sein Twitter-Account, über den er die verstörende afghanische Realität in westliche Bubbles befördert hatte, existiert nicht mehr. Kontakt nach außen ist ihm nicht erlaubt, laut Reporter ohne Grenzen durfte ihn kürzlich eine Tante besuchen.
Und was tut die Weltgemeinschaft? Als einziges Druckmittel lancierten 14 französische Medienhäuser im Februar die Online-Petition #FreeMortaza. Die UNO belässt es bei Floskeln und will das Regime erst anerkennen, "wenn es die Pressefreiheit im Land respektiert". Ob das die Taliban juckt?
Mortaza Behboudi sitzt weiter in Haft. Mit ihm verstummt ein wichtiger Informationskanal in eine Gewaltherrschaft, der umso wichtiger ist, als das internationale Interesse zusehends ermattet. Afghanistan betrifft auch uns. Aus keinem anderen Land kamen 2022 mehr Menschen, die bei uns Asylanträge stellten.
Ihre Lina Paulitsch
Es mag nur ein kleines Zeichen sein, aber könnte zumindest die europäische Aufmerksamkeit aufs Thema lenken: Die Petition von Reporters sans Frontières (Reporter ohne Grenzen) können Sie hier unterschreiben. Noch viel zu wenige Menschen haben unterzeichnet – auf, auf!
Im aktuellen Datum-Magazin schreibt die Journalistin Solmaz Khorsand über den westlichen Umgang mit den Frauen Afghanistans: "War es in den 1990er-Jahren noch schick, sich für die afghanische Frau einzusetzen, reicht es heute nicht einmal mehr für ihre Fetischisierung. ,Been there, done that, next!‘ lautet eher die Devise." Sich allein am nahenden internationalen Frauentag zu solidarisieren, reiche nicht, schreibt Khorsand in ihrer lesenswerten Kolumne.
Falls Sie wenig über das Land und das Regime wissen, empfehle ich die ARTE-Mediathek, in der sich zahlreiche Dokumentationen finden. Zum Beispiel diese Reportage über das wahre Gesicht der Taliban.
Leserin Victoria Slavuski schickte eine Ergänzung zum FALTER.maily über Georg I. Gurdjieff . Legitime Verwalterin seines geistigen Erbes in Wien sei die Facebook-Gruppe Gurdjieff Vienna, die mit der Gurdjieff Foundation in New York verbunden ist. Der erwähnte Arnold Keyserling war zwar ein Schüler Gurdjieffs, entwickelte dann aber sein eigenes philosophisches System.
Im gestrigen FALTER.maily zum Wahlausgang in Kärnten haben wir den Landeshauptmann irrtümlicherweise einmal Jörg statt Peter Kaiser genannt. Zahlreiche Leserinnen und Leser waren so nett, uns auf den Fehler hinzuweisen. Manche suchten gar nach einer tieferen Bedeutung oder einem versteckten Wortspiel. Diejenigen müssen wir enttäuschen; es handelte sich um einen ganz banalen Flüchtigkeitsfehler, wir bitten um Nachsicht.
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