Nichts hat sich geändert - FALTER.maily #1043

Daniela Krenn
Versendet am 17.03.2023

Semsettin Sümbültepe begrüßt mich mit einer Umarmung in einem Café an der Endhaltestelle des 44ers in Ottakring. In den vergangenen Wochen telefonierten wir mehrmals, schrieben Nachrichten, am gestrigen Donnerstag treffen wir uns zum ersten Mal persönlich. Er ist seit wenigen Tagen wieder aus der Türkei zurück in Wien. 

Vor fünf Wochen war er in Iskenderun, wo seine Mutter lebt. Mitten in der Nacht überraschte sie eines der verheerendsten Erdbeben, das die Region je erlebte. Neun Verwandte von Sümbültepe starben unter den eingestürzten Häusertrümmern. Er und seine Mutter überlebten, flüchteten zur Schwester, die ein Haus in den Bergen hat. Sümbültepe berichtete bereits vor einem Monat, wie wenig Hilfe bei den Betroffenen ankommt, wir haben es im FALTER aufgeschrieben. Gestern im Café erzählt er mir, dass sich daran kaum etwas geändert hat. Die Region wird nach wie vor von der Erdoğan-Regierung zu wenig beachtet.

Am 6. März bebte die Erde im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Nach der Richterskala hatte das Beben eine Stärke von 7,8. In der Türkei starben 48.500 Menschen, in Syrien meldeten die Behörden rund 6.000 Opfer. Seit wenigen Tagen ist der Südosten der betroffenen Region wegen schwerer Unwetter überflutet. 14 Menschen sind bei diesen Überschwemmungen bereits gestorben.

Sümbültepe öffnet am Caféhaustisch vor mir sein Whatsapp. Er hat ein Video geschickt bekommen, jetzt übersetzt er es für mich. Eine Frau steht vor einem Zelt. Sie ist von einer Hilfsorganisation für Frauen in der Türkei. In dem Zelt erhalten Frauen Binden, Tampons und Hygieneprodukte, sie sind derzeit Mangelware.

Hygiene ist generell schwierig, weil es keine Duschen oder sanitäre Anlagen in den Zelten gibt, in denen viele gerade wohnen. Die Frau im Video diskutiert heftig mit einem Mann, der neben ihr steht. "Er will das Zelt übernehmen, er ist von Afad, von der Regierung", sagt Sümbültepe. Etwas, das laut ihm kein Einzelfall ist. Afad, die türkische Einheit für Notfall- und Katastrophenmanagement, untersteht direkt der türkischen Regierung. Sie ist dafür zuständig, den Betroffenen in der Erdbebenregion zu helfen.

"Einige LKWs von den Freien Aleviten aus Österreich mussten, als sie in die Türkei fuhren, ein Pickerl von Afad an die Scheibe kleben", erzählt Sümbültepe. Es sieht dann nach Hilfe der türkischen Regierung aus, ist es aber nicht. Auch Özgür Turak, der Obmann der Freien Aleviten, bestätigt das. Warum Afad das tut? Um zu vertuschen, dass sie mit der Unterstützung nicht selbst nachkommen, so Turak. 99 Prozent der Hilfe kommt immer noch von Privatpersonen, ist sich Sümbültepe sicher. Er sieht es, wenn er selbst vor Ort ist, hört es von Bekannten in anderen Orten, bekommt es über soziale Medien mit.

Bis heute fahren Menschen aus umliegenden Orten, die verschont blieben, täglich in die betroffenen Gebiete und bringen Brot, Wasser, Medikamente. Auch unabhängige Medien berichten über das Versagen von Afad. "Es liegt alles noch in Trümmern. Das wird Jahre dauern, bis es wieder aufgebaut ist”, sagt Sümbültepe. 

Recep Tayyip Erdoğan, der türkische Staatschef, steht seit dem Beben massiv unter Druck. Zu späte Hilfe, zu wenig Versorgung der Betroffenen, werfen ihm die Menschen vor Ort vor. Er entschuldigte sich dafür und versprach, 319.000 Häuser bis Jahresende zu bauen. Am 14. Mai will er erneut die Präsidentschaftswahl gewinnen und seine Macht bestätigen. Sümbültepe wirft ihm vor, das Leid der Erdbebenopfer herunterzuspielen: "Im Fernsehen sagt er, die seien undankbar und Lügner."

Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass 26 Millionen Menschen vom Ausmaß des Bebens betroffen sind. Wer konnte, ist bei Verwandten untergekommen. Wer Geld hat, ist nach Izmir oder in eine andere Stadt gezogen. Tausende schlafen bis heute in ihren Autos, Zelten und Containerdörfern. Die Häuser, die noch stehen, sind zum Teil einsturzgefährdet. Immer noch gibt es Nachbeben. Während Sümbültepe und ich im Café sitzen, ruft er die Website der türkischen Behörden auf, die aktuelle Erdbeben anzeigt: "Gerade ist in Gaziantep ein Beben der Stärke 4,6", sagt er. Der Blick auf die Website ist zu seiner täglichen Routine geworden.

Absurd bleibt indes die österreichische Visa-Situation für türkische Staatsbürger. Denn während beispielsweise Deutschland die Visaverfahren für Angehörige vereinfachte, müssen türkische Staatsangehörige für Österreich immer noch ein ganz normales Touristenvisum beantragen. "Wie stellen Sie sich das vor, Herr Innenminister? Das ist in normalen Zeiten schon unglaublich umständlich", schreibt Mercan Falter auf Twitter. Sie ist Sümbültepes Tocther, arbeitet bei der Arbeiterkammer.

Was sie mit "umständlich" meint: Um ein Touristenvisum in Österreich zu beantragen, müssen türkische Staatsbürger einen Einkommensnachweis, Passfotos, einen Nachweis ihrer finanziellen Mittel und etwa eine Reiseversicherung vorweisen können. "Ich meine, ERNSTHAFT, wie zur Hölle soll man in einer Stadt, die schlicht dem Erdboden gleich ist, Einkommensnachweis, Bankstempel, Adresse, etc. angeben, WENN ALLES ZERSTÖRT IST?", schreibt sie. Das, zur Hölle, frage ich mich auch. 

Der Grüne Klub im Rathaus hat am 23. Februar einen Antrag auf vereinfachte Visa für Verwandte im Gemeinderat eingereicht. Alle anderen Fraktionen haben ihn abgelehnt. Nächste Woche will der Klub einen neuen, sehr ähnlichen Antrag einreichen.

Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen, 

Ihre Daniela Krenn


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