Aus dem Leben eines Kritikers - FALTER.maily #1045

Klaus Nüchtern
Versendet am 20.03.2023

Übermorgen erscheint die nächste Ausgabe der FALTER-Buchbeilage. Gerlinde Pölsler (Sachbuch), Kirstin Breitenfellner (Kinderbuch) und ich (Belletristik) haben selbst einige der spannendsten Neuerscheinungen besprochen, beziehungsweise unsere Rezensentinnen und Rezensenten beauftragt, das zu übernehmen. Einige von ihnen tun das bereits seit über dreißig Jahren.

Ich selbst habe auch schon gut sechzig Buchbeilagen mitgemacht und glaube sagen zu dürfen, dass ich über eine gewisse Routine verfüge. Nichtsdestotrotz verbreitet die basisbesorgte Barbara „Baronesse" Blaha, die sich nicht ganz so lange, aber doch schon seit geraumer Zeit um das Layout kümmert, im Frühjahr wie im Herbst verlässlich eine zart prä-apokalyptische Stimmung und scheint stets damit zu rechnen, dass es diesmal aber wirklich schief gehen wird. Und tatsächlich habe ich es heuer geschafft, sie „an den Rand eines Herzinfarkts" zu treiben. Ich war nämlich – weil ich mich im Datum geirrt und den Erscheinungstermin für mich um eine Woche vorverlegt hatte – extrem früh mit den Textabgaben dran gewesen. Wahnsinn!

Obwohl die Leipziger Buchmesse, die zuletzt pandemiebedingt drei Jahre in Folge ausgefallen war, ausnahmsweise erst Ende April stattfindet, erscheint die FALTER-Buchbeilage bereits jetzt (also etwa zum üblichen Messezeitpunkt), weil das Gros der Bücher bereits erschienen ist oder gerade herauskommt und wir mit unseren Besprechungen nicht die Allerletzten sein wollen. Weil Österreich dieses Jahr als Gastland in Leipzig auftritt und eine entsprechende, unter dem etwas kryptischen Claim „mea ois wia mia" stehende Aufmerksamkeitsoffensive schon seit Monaten im Gange ist, nimmt der Schwerpunkt zur heimischen Literatur in der Beilage mehr als den halben Belletristik-Teil ein.

Die Buchbeilage ist für meine Kolleginnen und mich eine willkommene Möglichkeit, thematische Schwerpunktsetzungen vorzunehmen und Besprechungen unterzubringen, die abseits dieses speziellen Formats nicht in diesem Umfang erscheinen könnten. Das hat einerseits damit zu tun, dass es immer ein Überangebot an Artikeln gibt und im Feuilleton ja nicht nur die Literatur, sondern auch Film, Theater, Kunst, Musik et cetera mit Artikeln bedacht werden sollen, andererseits damit, dass das Genre der Rezension in den Redaktionen generell nicht sonderlich hoch angesehen wird; oder sagen wir so: Die Rezension ist nicht gerade das Royal Flush des Journalismus. Damit kommt man nicht aufs Cover und gewinnt keine Preise.

In dem Zeitraum, den ich überblicke, hat kein journalistisches Format einen solchen Prestigeverlust erfahren wie die Rezension. Sie gilt als altbacken, bieder, betulich und uncool. Das hat mit dem allgemeinen Bedeutungsverlust von Kritik zu tun. Im Übrigen möchte ich hier kein Kulturverfallslamento anstimmen, sondern nur konstatieren, was Sache ist. Dass die Institution des Großkritikers à la Marcel Reich-Ranicki, der über die Macht verfügte, Bücher oder gar Autorinnen und Autoren zu „machen" oder auch ins Nirwana zu schreiben, der Vergangenheit angehört, ist kein Grund, larmoyant zu werden, ganz im Gegenteil.

Bedenklicher finde ich schon jene Entwicklung, die der Literaturkritiker und einstige Chef des Zeit-Feuilletons, Ulrich Greiner, schon vor Jahrzehnten als Trend zu den „weichen Genres" beschrieben hat: Statt einer Rezension, in der sich Kritiker:innen mit dem entsprechenden Besteck, über das sie hoffentlich verfügen, auf ein Stück Literatur (oder was auch immer) als ästhetisches Objekt einlassen, gibt es ein Interview, ein Porträt, eine Home-Story oder, am geilsten überhaupt, eine „Debatte." „Debatten" sind super, weil sie sich meist um ein potentielles moralisches oder politisches Fehlverhalten eines Künstlers oder einer Künstlerin drehen und da jede und jeder mitreden kann; Kenntnis des Werkes ist keine Voraussetzung, ja mitunter eher hinderlich.

Erschwerend kommt hinzu, dass a) das Angebot an Freizeitgestaltungs- und Kulturkonsummöglichkeiten exponentiell gestiegen sind, der Tag aber immer noch bloß 24 Stunden lang ist und b) die Revolution der Social Media zugleich zu einer Pluralisierung und Delegitimierung von (professioneller) Kritik geführt hat.

Dennoch ist die klassische Literaturkritik nicht vollkommen inflationär geworden. Wenn heute vielfach darauf hingewiesen wird, dass eine Besprechung selbst in wichtigen Blättern des deutschsprachigen Feuilletons kaum noch zu wahrnehmbaren Absatzsteigerungen im Buchhandel führt, dann ist das gewiss zutreffend, aber dennoch ein bisschen falsch gedacht. Zum einen ist es nämlich gar nicht die Aufgabe von Kritik, die Verkaufszahlen in die Höhe zu treiben – dafür sind die Verlage und der Buchhandel zuständig –, zum anderen ist es eine ökonomistische, verkürzte Sichtweise, Erfolg rein quantitativ zu bemessen. Es gibt eben auch nicht-pekuniäre Währungen, in denen sich Wertschätzung ausdrückt. Und selbst Autor:innen, deren Bücher sich gleichsam „von selbst" verkaufen, grämen sich dann doch, wenn sie im Feuilleton nicht besprochen und bloß als Produzenten von „Unterhaltungsliteratur" wahrgenommen werden.

Als Kritker:in findet man sich am besten damit ab, dass man für ein „Minderheitenprogramm" zuständig ist. Und es geht ja auch nicht alles den Bach runter. Wie Sie vielleicht schon dem Maily von Josef Redl entnommen haben, war neulich Sofia in der Redaktion und hat dort eine „Blattkritik" gehalten. Der Kollege Redl war danach ein bisschen geknickt, ich hingegen bester Laune.

Sofia, 15 Jahre alt und Schülerin aus Essling, hatte generell einige sehr ermunternde Dinge gesagt. Zum Beispiel, dass sie gendergerechte Sprache wichtig finde, dass der FALTER in der Hinsicht aber eigentlich ganz okay sei. Befragt, wie sie es fände, dass die meisten Menschen, die im FALTER schreiben, zehn, zwanzig oder auch fünfundvierzig Jahre älter seien als sie selbst, meinte sie pfiffig: Ich google das Alter der Autoren nicht, Hauptsache, die schreiben was G'scheites. Sehr cool. Auf die Frage aber, was sie im FALTER als Erstes lese, meinte sie: „die Literaturkritiken". „U Gimme Hope, Sofia!"

Ihr Klaus Nüchtern


Aus dem Falter

Dem erfolgreichsten Schriftsteller dieses Landes kann es natürlich vollkommen powidl sein, ob seine Romane im Feuilleton besprochen werden. Ein Interview, das Katharina Kropshofer und Barbara Tóth mit Marc Elsberg aus Anlass von dessen Klimawandel-Thrillers „Celcius" geführt haben, finden Sie hier.


Auf nach Essling!

Apropos Essling. Ich war erst am vergangenen Wochenende wieder dort und kann Essling als Spazierareal sehr empfehlen. Schon die Anfahrt macht Freude, denn der U-Bahnübertagtrassenbogen zwischen den U2-Stationen Aspern-Nord und Seestadt ist der beste U-Bahntrassenabschnitt der Stadt. Die Seestadt selbst wächst beständig, da tut sich immer was, und der Gedenkwald samt Himmelteich ist sowieso super (es hat dort verlässlich Schwanzmeisen und in der entsprechenden Jahreszeit auch Pirole).


Auf ins Kino!

Jetzt ist es endlich da, das nonstop-Kino-Abo. Um € 24,- im Monat kann man sich ab sofort in zehn Wiener Programmkinos beliebige viele Filme ansehen.


Musik, die Freude macht

Falls Sie das Konzert der wunderbaren Gitarristin Mary Halvorson und ihres nicht minder wunderbaren Amaryllis-Sextet am vergangenen Samstag verpasst haben, dann haben Sie am 25. März im Schl8hof in Wels noch einmal die Gelegenheit, dieses Versäumnis wettzumachen. Und so hört sich das an!


Ein Mensch, der sich freut

Falls Sie den Auftritt von Hans Krankl in der Ö1-Radiosendung „Klassiktreffpunkt" am vergangenen Samstag verpasst haben, dann können Sie diesen hier noch nachhören. Die Anekdote von der Begegnung des Fußballstars mit dem Kinks-Sänger Ray Davies ist einfach rührend. Und überhaupt ist es schön, jemand zuzuhören, der sich so schön freuen kann wie Hans Krankl.


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