Worüber wir zu wenig reden - FALTER.maily #1104
Vor wenigen Wochen schrieben Florian Klenk und ich über K.O.-Tropfen im FALTER 20\/23. Mehrere Betroffene erzählten darin ihre Geschichte, ...
Morgen erscheint "Das ist los", Herbert Grönemeyers 16. Album. Ich freue mich immer, wenn der deutsche Sänger Neues ankündigt. Allerdings nur in zweiter Linie der Musik wegen, in erster Linie freue ich mich auf das zugehörige Interview. Gespräche mit "Gröni" sind stets eine große Freude. Er ist, so weit sich das bei knapp einstündigen Begegnungen alle paar Jahre beurteilen lässt, schlau, selbstreflektiert, interessiert, schmähbegabt, haltungsstark und entwaffnend uneitel – kurz: ein ausgesprochen leiwander Typ.
Unsere aktuellste Begegnung haben wir auch fürs FALTER-Radio als Podcast mitgeschnitten, Sie können die Sendung ab Samstag über die gewohnten Kanäle hören und erfahren dort dann etwa, mit welchem aktuellen deutschen Fußballer sich der Musiker am ehesten identifizieren kann und warum er nicht daran glaubt, dass eine Künstliche Intelligenz überzeugende Grönemeyer-Songs liefern könnte. Die gekürzte Printversion des Gesprächs finden Sie online hier – oder gedruckt in der kommenden Ausgabe.
In diesem Maily möchte ich Ihnen vier Geschichten erzählen, die sich am Rande meiner Interviews mit dem Musiker zugetragen haben. Beim ersten Treffen 2002 ging es um sein Album "Mensch". Innerhalb weniger Tage waren 1998 Grönemeyers Frau Anna sowie sein älterer Bruder Wilhelm verstorben. Er hatte sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und den Schmerz in diesem Album verarbeitet, das zum erfolgreichsten seiner Karriere werden sollte.
Ich war gerade das zweite Jahr beim FALTER und für gewöhnlich zwischen Indie, Alternative und HipHop unterwegs. Die Nervosität war groß. Was, wenn mir ein gebrochener Mann gegenüber sitzt, der einsilbig bleibt? Ob bei Grönemeyer, dieser Moralinstanz mit dem eckigen Duktus, überhaupt eine lockere Unterhaltung möglich sei? Würde er einfach seine Ansichten über Gott und die Welt ins Gerät diktieren? Und wie sollte ich ihn denn korrekt ansprechen? Respektvoll distanziert per "Sie" vermutlich, als meinen ersten Interviewpartner überhaupt?!?
Unsicher klopfte ich an seine Hotelzimmertür. Wenige Sekunden später flog sie auf und der Sänger begrüßte mich lautstark und überschwänglich freundlich: "Hallo! Ich bin Herbert!" Das mit dem "Sie" hatte sich also erledigt. Dann entdeckte er die Band-Anstecker an meiner Jeansjacke. "Ah, ich sehe, du trägst Buttons, super. Sekunde, ich schenk dir gleich welche von meinem Label!"
Zum Einstand haben wir uns dann gleich einmal über NEU! unterhalten, die deutsche 70er-Jahre-Krautrockband, deren lange vergriffenes Werk just Grönemeyer damals mit Grönland Records neu aufgelegt hatte. Herrlich.
Bei einem weiteren Treffen Jahre später erzählte ich ihm vor Interviewbeginn von meinen Töchtern im Volksschulalter, die "Julie" bei einem Schulfest a cappella gesungen hatten, eines seiner ganz alten Lieder. Er reagierte glaubhaft gerührt. Als ich nach dem Gespräch bereits auf halbem Weg zur Tür war, rief er mir hinterher: "Grüße an die Töchter und weiterhin viel Spaß beim Musikhören und Singen!" Ich drehte mich um. "Ganz ehrlich: Mittlerweile sind die beiden längst bei Tocotronic gelandet." Darauf er: "Tocotronic? Super! Ist eh viel besser als Grönemeyer!"
Ein anderes Mal wollte ich überprüfen, wie weit es mit der Selbstironie des Sängers tatsächlich her ist. Am Ende des Gesprächs legte ich ihm die Platte "Grönemeyer kann nicht tanzen" vor, eine Persiflage des Satirikers Wiglaf Droste und des Ärzte-Musiker Bela B. von 1989. Ob er sie mir signieren würde? Gröni lachte, drückte seine Wertschätzung für das Lied aus und unterschrieb sie mit der Widmung "Du weißt, ich kann tierisch tanzen. Alles Liebe, dein anmutig tänzelnder Herbert."
Zuletzt brachte ich die Vinylversion jenes Albums mit, das für unsere erste Begegnung gesorgt hatte, "Mensch". Ob er – als Meister von Zuversicht und positiver Energie – mir, der ich nicht ganz so viel davon abbekommen habe, etwas draufschreiben könne, das mir im Leben weiterhilft?
Grönemeyer stutzte kurz, griff zum Stift, grinste, und schrieb: "Lieber Gerhard! Ich hab auch keinen Plan, aber wünsche Dir mehr Glück. Danke! Dein Herbert".
Auch Ihnen viel Glück und einen angenehmen Abend,
Ihr Gerhard Stöger
Falls Sie Lust auf einen Ausflug in die 1980er haben: Hier sehen Sie den jungen Herbert Grönemeyer mit seinem ersten Hit "Männer", und hier singt er, solo am Klavier, den Liebeskummer-Klassiker "Ich hab dich lieb".
Hüter*innen der reinen Songwriterlehre und Anhänger*innen der Glaubensgemeinschaft zum heiligen Bob provoziere ich gern mit der Aussage, dass Lana Del Rey größer als Bob Dylan sei. Der Schmäh dran: Es ist gar kein Schmäh, zumindest nicht für mich und mein Hörverhalten. Morgen erscheint das neue Album der US-Meisterdramatikerin, "Did You Know That There's A Tunnel Under Ocean Blvd". Darauf einstimmen können Sie sich mit dem Titelstück und dem Sieben-Minuten-Drum "A&W".
Die Wiener Kunsthäuser bieten derzeit eine Vielzahl spannender neuer Ausstellungen, von poppigem Feminismus über jahrhundertealte Bronzeskulpturen und die tragbaren Objekte Franz Wests bis zu Klassischem von Klimt & Co. Nicole Scheyerer gibt in der Titelgeschichte unserer Kultur-und Programmbeilage einen so kurzweiligen wie kundigen Überblick.
Bis das Gespräch mit Grönemeyer am Samstag im FALTER-Podcast läuft, können Sie dort schon die eine oder andere spannende Sendung anhören. Aktuell etwa jene über den Tabubruch in Niederösterreich. ÖVP-Landesgeschäftsführer Bernhard Ebner erklärt, warum seine Partei einen Pakt mit der rechtsextremen Landbauer-FPÖ geschlossen hat, Gäste aus dem In- und Ausland äußern fundierte Kritik an der Entscheidung.
Weniger konfrontativ geht es im FALTER-Buchclub zu: Petra Hartlieb hat diesmal den Bestsellerautor Daniel Glattauer zu Gast. Er spricht über seinen neuen Roman "Die spürst du nicht" , über Gutmenschen, Postings in Internetforen und den Einfluss der Politik aufs Individuum. Bevor Glattauer eine Passage aus seinem neuen Werk vorliest, stellt Ihnen FALTER-Literaturkritiker Klaus Nüchtern zwei Titel aus der aktuellen FALTER-Buchbeilage vor.
SAVE THE DATE: 25. März 2023, 19 Uhr
Es ist wieder Festivalzeit im Haus der Musik! Nach dreijähriger Pause präsentiert das HdM Sinnesrauschen endlich wieder große Melodien herausragender Indie- und Alternative-Acts. Eine Kooperation mit der Vienna Songwriting Association.