Kandidat Staatsmann - FALTER.maily #1106
Der neue SPÖ-Chef Andreas Babler hat eine große Aufgabe vor sich. Er muss als Obergenosse die Partei neu erfinden und breit aufstellen und ...
Eigentlich wollte ich einmal Lehrer werden. Oder sagen wir so: Ich wollte Germanistik, Psychologie und Philosophie studieren, und mir ist kein anderer Beruf eingefallen, den man mit diesem Fächermix hätte ausüben können. Außerdem habe ich mir in meinem juvenilen Hochmut gedacht, dass ich das besser hinkriegen würde als viele meiner Lehrerinnen und Lehrer.
Dass es mit dem Lehramt dann doch nichts geworden ist, hat mehrere Gründe. Zum einen musste ich in einem Fachdidaktik-Seminar eine Deutschstunde halten, die auf Video aufgezeichnet wurde. Der Mitschnitt war nicht ganz leicht auszuhalten. Inhaltlich, so denke ich, war die Einheit schon okay (irgendwas mit Wittgenstein, wenn ich recht erinnere), aber für den Unterrichtsstil des Vortragenden hätte man seinerzeit wohl Vokabeln gebraucht, die heute als ableistisch gelten. Vielleicht kann man es so formulieren: Ich bin „motorisch ein bisschen divers", was sich auf dem Dancefloor gar nicht so schlecht macht, in Unterrichtssituationen aber kontraproduktiv sein könnte. Obwohl: „Tanz den Tractatus" könnte eigentlich eine ziemlich coole Unterrichtseinheit sein – quasi auf den Spuren von M. A. Numminen.
Der Hauptgrund, warum ich mich gegen eine Laufbahn als Pädagoge entschieden haben, waren allerdings die Pädagog:innen, die an der Uni unterrichtet haben. Was, so dachte ich, legitimiert Menschen, die sich eines dermaßen langweiligen, konfusen und märchentantenhaften Vortrags befleißigen, dazu, anderen Menschen beibringen zu wollen, wie man unterrichtet?
Weil ich seit Jahrzehnten mit einer Lehrerin zusammenlebe, habe ich meine Berufsentscheidung nie bereut. Als Feuilletonist hat man entschieden weniger Stress, muss nicht wöchentlich Tonnen von Papier schleppen, keine Hefte korrigieren, keine Maturaaufgaben aushecken und sich nicht mit Eltern herumschlagen, die ihr Leibesfrüchterl für Gottes zweitbestes Geschenk an die Menschheit nach Jesus Christus halten. Die Angaben zu einer Schularbeit sind heute keine halbseitigen, interessant riechenden Zettel mehr, die man auf einer Matritzenmaschine runterradelt, sondern Konvolute, die mehr Seiten umfassen als US-Einreiseformulare für Dschihadisten – massiv genug, um damit problemlos Kleinnager bis zur Größe von Biberratten erschlagen zu können.
Nichtsdestotrotz kann es eine große Freude sein, Kinder zu errichten. Gleichsam am eigenen Leib erfahren habe ich das, als ich in prä-pandemischen Zeiten an einer Volksschule in Ottakring Dienst als „Lesepate" versah. Wenn Kinder in der dritten Klasse „lesen", indem sie mit dem Finger die Zeilen entlangfahren und stockend Silben aneinanderhängen, möchte man mitunter zwar aus der Haut fahren, und die Frage „Was ist ein Berg?" hat mich tatsächlich kalt erwischt; aber der Enthusiasmus und der Witz, den die Kinder – und zwar fast unabhängig von ihrer tatsächlichen Lesekompetenz – an den Tag legten, war immer wieder erhebend. Außerdem hat mir Jovan, einer der Blitzgneißer aus meiner ersten Lesepatenklasse, eines der schönsten Komplimente gemacht, das ich je bekommen habe: „Sie wären schon auch ein cooler Lehrer gewesen." (Als Lesepate bin ich allerdings auch immer still auf meinem Stuhl gesessen, während die Kinder vorgelesen haben).
Die Sache mit dem Unterrichten ist mir eingefallen, als ich vergangenen Freitag im Gartenbaukino Jeremy Dellers grandiose Doku „Everybody In The Place" gesehen habe. „An Incomplete History of Britain 1984 -1992", wie der Film von 2018 im Untertitel heißt, ist im Wesentlichen die Verfilmung einer Schulstunde aus dem Fach Politische Bildung. Deller, der nicht nur ein toller Künstler, sondern offenkundig auch ein begnadeter Pädagoge ist, bringt rund dreißig überwiegend nicht hegemonial pigmentierten Schüler:innen aus einer öffentlichen Schule in einem ziemlich poshen Eck von London die in den 1980er-Jahren aufkommende Rave-Kultur nahe.
Deller erklärt, was House Music mit Karl Marx zu tun hat – Stichwort: Aneignung der Produktionsmittel – und konfrontiert sein jugendliches Publikum anhand von Archivaufnahmen nicht nur mit dem, was damals in den Klubs dies- und jenseits des Atlantiks abging, sondern auch mit dem Protest der Frauen von Greenham Common oder der brutalen Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks durch berittene Polizisten. Und schließlich dürfen die jungen Frauen und Männer selbst an die Regler und die Schulklasse in eine beatdurchpulste und laserlichtdurchflashte Disco verwandeln. Immer wieder hält die Kamera auf die Gesichter der Schüler:innen, auf denen sich Erstaunen, Amüsement, Neugierde und Freude abzeichnet. Für das Filmpublikum ist es ein berührender und beglückender Anblick, der nachvollziehbar macht, warum es Menschen gibt, die den Arbeitsplatz Klassenzimmer lieben.
Einer meiner favorite moments des Films ereignet sich bei circa 15:00 des oben verlinkten Youtube-Videos. Während einer TV-Sendung aus Detroit bildet sich ein Spalier, in dem Menschen aus dem Publikum zu Kraftwerks „Numbers" ihre teils sehr virtuosen und idiosynkratischen Dance-Moves vorführen – unter anderen auch eine fantastisch aussehende junge Schwarze. Das Gesicht, das der Schüler mit dem imposanten Afro danach macht – it made my day!
Ihr Klaus Nüchtern
#kinodenktweiter-Event: MATTER OUT OF PLACE am 19. April im Gartenbaukino!
Nikolaus Geyrhalter widmet sich in MATTER OUT OF PLACE unseren Abfällen, die bereits bis in die hintersten Winkel dieser Erde vorgedrungen sind.
Film & Gespräch: Nikolaus Geyrhalter, Lisa Tamina Pannhuber/Greenpeace, Mag. Dr. Thomas Jakl/BMK Österreich, Dr. Gudrun Obersteiner/BOKU, Georg Baunach/Plastic Fischer’s. Moderation: Astrid Aschenbrenner aka@Wienerkind. Tickets gibt es hier.
Ab 21. April im Kino.
Die Ausstellung „Warning Graphic Content" ist noch bis 7. Mai im Kunstraum Franz Josefs Kai 3 (FJK3) zu sehen.
Seit über zwei Jahren stelle ich in meiner Eigenschaft als Falter-Vogelwart (FaVoWa) jeden Dienstag im FALTER.morgen einen „Vogel der Woche" vor. Diese Serie neigt sich nun dem Ende zu, weil mir schlicht die Vögel ausgehen. Morgen wird im Morgen freilich noch einmal einer präsentiert. Welcher, verrate ich natürlich nicht.
Etwa eine halbe Million, also ein Viertel aller Wiener:innen, lebt in Gemeindebauten. Vor allem die während des Roten Wiens in den 1920er- und 1930er-Jahren entstandenen Anlagen zählen zu den architektonisch und städtebaulich hausragenden Beispielen des sozialen Wohnungsbaus. Soeben ist das „Lexikon der Wiener Gemeindebauten" des Autoren-Duos Peter Autengruber und Ursula Schwarz erschienen. Wann und wo es präsentiert wird, erfahren Sie hier.
Allen, die sich fürs Rote Wien interessieren, sei auch der im Falter Verlag erschienene Führer „Rotes Wien" empfohlen. Autorin Inge Podbrecky hat fünf Routen zusammengestellt, die zu den wichtigsten Gemeindebauten dieser Ära führen.
Über dreißig Bücher hat der US-Autor Percival Everett bereits geschrieben. Jetzt wird er auch bei uns entdeckt. Unter dem Titel „Erschütterung" wurde Letztes Jahr erstmals sein Roman „Telephone" ins Deutsche übersetzt, nun hat der Hanser Verlag einen weiteren Roman des 1956 geborenen Autors vorgelegt. „Die Bäume" ist ein Krimi, in dem es um eine Reihe von bizarren Morden geht, die in Money, Mississippi begangen werden. Die Spur, die der lokale Sheriff und schließlich zwei afroamerikanische Detectives aufnehmen, führt gut ein halbes Jahrhundert zurück, als im August 1955 im nämlichen Ort der 14-jährige Emmett Till von zwei weißen Rassisten grausam zu Tode gebracht wurde. Eine rein weiße Jury sprach die Mörder frei. Obwohl Everetts Roman ein finsteres und leider nach wie vor aktuelles Thema behandelt, ist er zugleich – vor allen dank der Dialoge – unglaublich witzig. Wärmste Empfehlung!
1962, also sieben Jahre nach der schrecklichen Mordtat, hat Bob Dylan den Song „The Death of Emmett Till" eingespielt.