"Es passieren Fehler" - FALTER.maily #1070

Daniela Krenn
Versendet am 20.04.2023

Um sieben Uhr in der Früh steht S. im Spritzenkammerl. 50 Ampullen mit Kochsalzlösung liegen vor ihr, auf jeder klebt ein Name. In jede Einzelne muss S. Cortison hineinspritzen, eine nach der anderen vorbereiten, für die Patient:innen, die gleich zur Chemotherapie kommen. Dazwischen klingelt ständig das Telefon. Dran sind Ärzt:innen, andere Stationen, die was brauchen: Ist da ein Bett frei, wie geht es Patienten XY? Patient:innen läuten vom Bett aus: "Schwester, ich habe so Schmerzen." "Ich kann keine einzige Tätigkeit gescheit zu Ende führen und dabei passieren Fehler", sagt sie. 25 bis 30 Patient:innen liegen auf ihrer Station. Um sieben Uhr in der Früh ist sie alleine, der zweite Kollege kommt erst um neun. 

Was S. hier beschreibt, ist ihr typischer Arbeitsalltag als diplomierte Pflegekraft am Landeskrankenhaus Graz. "Spritzenkammerl", so nennt sie den kleinen Raum, in dem sie die Medikamente mischt. Mitte Februar telefonierte sie das erste Mal mit mir, am vergangenen Mittwoch noch einmal. Sie bittet, dass ihr Name und ihre Station geheim bleiben. Sie hat Angst um ihren Job und dass kein anderes Krankenhaus sie wieder einstellen würde, wenn sie öffentlich über die Missstände spricht. Dabei ist das, was sie erzählt, längst kein Geheimnis mehr. Und S.s Geschichte ist eine, wie sie derzeit viele Pflegekräfte erzählen können.  

In Österreichs Krankenhäusern fehlen Ärzt:innen und Pflegepersonal. In der Ottakringer Klinik gab es allein im vergangenen Jahr 16 Gefährdungsanzeigen, weil das Personal die Patient:innen in der Zentralen Notaufnahme stundenlang warten lassen musste, weil sie nicht hinterher kamen. Mitte März meldeten die Ärzt:innen erneut eine. Im Linzer Kepler Universitätsklinikum drohten Belegschaftsvertreter:innen im Jänner mit Streik, um auf den Personalmangel hinzuweisen. Und im LKH Graz, in dem S. arbeitet, ist derzeit jedes sechste Bett gesperrt, weil es nicht genug Pflegekräfte gibt.

"Das, was wir hier betreiben, ist mittlerweile gefährliche Pflege", sagt S. Denn wenn sie die Ampullen für ihre Patient:innen zusammen mischt, braucht sie Konzentration und Zeit. Doch wie soll das gehen, wenn sie alleine auf der Station ist, wenn sie gleichzeitig von Patient:innen und Ärzt:innen gebraucht wird? "Ich werde weg gerufen, dann komme ich zurück und weiß nicht mehr, hab ich in der Ampulle schon etwas reingespritzt?", erzählt sie. "Gefährlich ist es, wenn einer von uns vergessen würde, eine Ampulle zu mischen. Bekommt die später ein Patient bei seiner Chemo, dann könnte er Juckreiz und rote Haut bekommen, ähnlich wie bei einer Bienenallergie."

S. ist bei ihrer Arbeit fast durchgehend unter Stress. Jetzt könnte man denken, gut, ein Job im Krankenhaus ist eben nichts Eintöniges, Langsames, Planbares. Aber die Zustände, die A. erlebt, zeigen ein Versagen der Politik bei der medizinischen Versorgung. Den Personalmangel hätte die Politik seit Jahren voraussehen können. Die Babyboomer-Generation geht in Pension, Menschen werden älter und brauchen mehr Pflegebetreuung. In der Coronapandemie verschärfte sich die Situation.

In einer Studie der Karl Landsteiner Privatuniversität gaben 84 Prozent der 1000 befragten Pflegekräfte an, dass sie mindestens eine notwendige Tätigkeit am Patienten in den vergangenen zwei Wochen weglassen mussten. 7.800 Krankenpfleger:innen fehlen jetzt in Österreichs Krankenhäusern, rechnet der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband. Bis 2030 bräuchte Österreich rund 75.000 zusätzliche Pflegekräfte für den gesamten Pflegebereich, vom Krankenhaus bis zur mobilen Altenpflege.

Das ist schlecht für die Patient:innen, aber belastet auch das Personal massiv - nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Dann machen sie aufgrund des Zeitmangels nicht nur Abstriche bei der Betreuung. Dann stresst auch der Kopf: Hab ich was übersehen, vergessen? Und dann können eben auch Fehler passieren, wie S. beschreibt. 

"Wer nicht mehr kann, geht oder macht zumindest Teilzeit, weil es einfach zu anstrengend ist", sagt S. Sie arbeitet seit über 20 Jahren im LKH. 21 Pflegekräfte waren damals auf ihrer Station tätig, heute sind es sieben. "Die Hälfte ist in Pension gegangen, die anderen haben gekündigt." Für das vorhandene Personal heißt das sehr oft: einspringen, wenn jemand ausfällt. Sie selbst hat 13 Urlaubswochen übrig, da sind die von 2023 noch nicht dazugerechnet. Sie mag ihren Beruf und will ihn gut machen, so wie ihre Kolleg:innen auch. Aber so unterbesetzt ist das schwer möglich. Seit 20 Jahren im Beruf denkt sie zum ersten Mal darüber nach, die Station zu wechseln oder zu kündigen. Deswegen will sie ihren Namen nicht sagen. Sie ist am Limit.

Was müsste passieren? In der Pflege beispielsweise: Ursachen für die Abbrecherquoten an Fachhochschulen für Pflegeberufe untersuchen und beheben, Quereinsteiger mit Förderungen und Stipendien den Umstieg erleichtern, Teilzeit ermöglichen, mehr Gehalt bezahlen. All das sind Forderungen, die etwa Belegschaftsvertreter, Ausbildende, Arbeiterkammer und Hilfsorganisationen längst gestellt haben. Personal aus Drittländern anwerben, das will nun Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne). Daran werde gearbeitet, sagte er im gestrigen Ministerrat, und auch an weiteren Reformen.

Als S. und ich am Mittwoch noch einmal telefonieren, erzählt sie, dass wieder zwei Leute auf ihrer Station gekündigt hätten. Die fraglichen Ampullen, bei denen sie nicht sicher ist, ob sie sie richtig befüllt hat, schmeißt sie lieber weg, beginnt von Neuem. Wieder geht Zeit drauf, die sie eigentlich nicht hat. 

Einen schönen Abend,

Ihre Daniela Krenn


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