Der Elefant und die Skythen - FALTER.maily #1071

Eva Maria Konzett
Versendet am 21.04.2023

Ich habe es als Journalistin immer als Privileg empfunden, die spannendsten Menschen der Welt ausfragen zu dürfen. Auch deshalb habe ich mich irrsinnig auf mein gestriges Treffen mit dem amerikanisch-serbischen Ökonomen Branko Milanović gefreut. Der Mann ist einer der wichtigsten Ungleichheitsforscher der Welt.

Sein "Elefant" zu den Auswirkungen der Globalisierung fehlt in keinem Lehrbuch der Volkswirtschaft (mehr dazu bald im FALTER). Froh gestimmt also fuhr ich zum Termin. Was ich da noch nicht wusste: Es würde nicht beim Ausfragen bleiben. 

Wir trafen einander in einem Innenstadthotel, schwere Luster, Ölmalereien und Samt. Nach 45 Minuten - ich hatte schon vier "allerletzte" Fragen gestellt, wandte sich Milanović in dieser kakanischen Kulisse mit einer simplen Frage an mich: "Was lesen Sie gerade?". Er tat es mit ehrlichem Interesse.

Also erzählte ich ihm von "Was suchst Du, Wolf?", dem gerade erschienenen Roman der belarussischen Schriftstellerin Eva Viežnaviec. Ich warf ein, wie ein durchaus schmales Buch ein ganzes Land - in dem Fall das unbekannte Belarus - für einen öffnen kann. Milanović wollte wissen, ob die Novelle denn autobiographisch sei. Ich entgegnete in den Worten der Autorin, dass nichts davon jemals so stattgefunden habe, und doch alles wahr sei. Milanović nickte.

So sei es doch immer, meinte er. Wer das Rumänien der 1930er-Jahre verstehen wolle, der müsse sich an Mircea Eliade halten. Und sein, Milanovićs, Heimatland Serbien erfahre man am besten durch den Roman "Fathers and Forefathers" von Slobodan Selenić.

Milanovićs Worte erinnerten mich an Egon Friedells Überlegungen in der "Kulturgeschichte der Neuzeit", wonach die verschriftlichten Dokumente einer Epoche, all die Chroniken, die Steuerlisten und Gesetzestextes einem vieles aber ganz sicher nicht die historische Wahrheit erzählten. Dass der Blick auf die Fakten immer ein amputierter sein müsse. Und man doch so viel mehr in den Gesängen, Mythen und Erzählungen finden könne. Ja, dass die historische Evidenz eine Einbildung sei.

Oder anders gefragt: Ist der Liebe Augustin weniger Wiener, weil er nicht gelebt hat?

Im Jahre 447 vor Christus stieg der griechische Schreiber Herodot vor Athen in eine Barke und segelte gen Südosten. Dort an den Schwarzmeerküsten der heutigen Ukraine wollte er die "barbarischen" Reiternomaden der Skythen besuchen. Er sammelte die Volksweisen der Menschen, er verdichtete ihre Geschichten, er vermaß ihre Kulte. Seine Quelle: Die orale Überlieferung. 

Man nennt Herodot zwar den Vater der Geschichtsschreibung, als Historiker hat man ihn aber nicht immer ernst genommen. Die Gelehrten des viktorianischen Zeitalters verschrien ihn als "Scharlatan", dessen Erkenntnisse nicht überprüfbar und damit unwissenschaftlich seien, seinen Stil bezeichneten sie als zu überzeichnend.

Zu fantastisch erschienen ihnen Herodots Überlieferungen. Jene von den aufgeworfenen Erdgräber der Skythen mit den kilometerlangen Gängen, jene von der Tradition der Menschenopfer, jene von den gepfählten Streitrössern als Grabbeigabe, mit einem Holz durchstochen, so dass sie nicht umkippten beim Verwesen. Die Geschichten vom rituellen Cannabiskonsum der Skythen unter einem dreibeinigen Zelt. 

Und dann fand man - 2500 Jahre nach Herodot - die hügelhaften Erhöhungen in der ukrainischen Steppe, die "Kurgans", man fand also die Gräber der Skythen in ihnen, man fand die von Herodot genannten Anis-Kräuter in den früh verstorbenen menschlichen Überresten. Man fand in einer der Grüfte Pferdeknochen von mehr als 300 Tieren und fein geschmiedetes Geschirr. Und in einem Kurgan im Permafrost des Altai-Gebirges, da fand man den kleinen Fellbeutel. Gefüllt mit Cannabis, mit Feuersteinen und dem Rahmen eines kleinen Zelts. 

"Wir wissen nicht alles", sagte Branko Milanović beim Abschied.

Welch schöner, demütiger, welch wahrer Satz in der heutigen Zeit.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende

Ihre Eva Maria Konzett


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