Kowall und Zwander - FALTER.maily #1100
Ich möchte Ihnen heute von zwei Sozialdemokraten erzählen, die ich in den vergangenen Jahren doch recht intensiv beobachten konnte und die ...
Vergangene Woche sind zwei Dinge passiert, die mich beschäftigen.
Der Oberbürgermeister von Thübingen, Boris Palmer (einst ein Grüner) sagte bei einer Integrationskonferenz, er wolle sich nicht verbieten lassen, das Wort "N****" zu verwenden, etwa um historische Reden oder Buchbeiträge zu zitieren. Palmer sprach das Wort aus. Die Uni Frankfurt fordert nun eine Entschuldigung und der Moderator hat die Diskussion abgebrochen.
Zweitens: Der grüne Sozialminister Johannes Rauch sprach in einem Tweet von "schwangeren Personen" statt von Frauen. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger twittere dazu: "Als Frau und Feministin würd ich wirklich gerne auch weiter Frau sein dürfen. (...) Diese sprachliche „Korrektheit“ ist nicht befreiend, sondern beklemmend."
Der Shitstorm gegen Palmer und der Shitstorm gegen Rauch zeigen das Problem einer global vernetzten, gereizten Gesellschaft, die in viele Identitäten zerfällt.
Sprechen dient nicht mehr nur unserer Verständigung, sondern der politischen und ideologischen Distinktion einzelner Gruppen, die miteinander nicht mehr ins Gespräch kommen wollen oder können. Auch wohlmeinendes Sprechen, ja sogar der Versuch von Aufklärung und Differenzierung wird zum Risiko. Sprache wird zur Falle.
Beginnen wir mit Palmer: Ich zensiere, anders als Palmer, das "N-Wort" in diesem Maily deshalb, weil ich mir auf Social Media eine (oft von weißen Menschen in angeblich wohlmeinender Absicht angezettelte) Diskussion darüber ersparen will, ob ich ein Rassist bin. Ich bin keiner.
Aber ich kenne die Empörungsmechanismen auf Twitter: irgendjemand macht einen Screenshot des ersten Absatzes dieses Textes und schreibt: "Skandal, der Falter schreibt N****! Das Blatt ist rassistisch!" Und schon geht es los. Da setze ich lieber vier Sternchen und erkläre meinen Sprechakt zur ideologischen Demonstration und rette meinen freien Abend.
Sie merken: Es wird heuchlerisch, wohlfeil und irgendwie auch unangenehm. Aber mir geht es nicht darum, das N-Wort auszusprechen, sondern um die Reaktionen darauf.
Palmer hat etwas sehr Banales ausgesprochen: Wenn jemand das N-Wort verwendet, um andere zu beleidigen oder Rassismus zu verbreiten, dann sei das doch etwas anderes, wie wenn man das Wort verwende, um historische oder literarische Texte zu zitieren. Auf den Kontext, also die äußeren Umstände und die Motivation, komme es an. Palmer hätte all das natürlich auch sagen können, ohne "N****" mehrmals ins Mikro zu sagen. Aber das wollte er nicht. Es bereitete ihm offenbar auch ein Vergnügen, die Anwesenden zu provozieren.
Palmer hätte auch noch viele andere unerträgliche Worte anführen können, die wir zueinander nicht (mehr) sagen sollen oder die (mittlerweile) historisch belastet sind, die wir aber – entweder in wissenschaftlichen, politischen oder juristischen Debatten – dokumentieren, um Rassismus, aber auch eine geänderte Bedeutung von Worten zur Sprache bringen.
Palmer wurde nun vorgeworfen, er wolle andere Menschen als "N****" beleidigen. In Wahrheit beleidigte er ihre Intelligenz. In den sozialen Medien sieht man ihn nach der Veranstaltung mit Jugendlichen auf der Straße stehen, die ihn als Nazi beschimpfen und niederbrüllen, anstatt mit ihm zu streiten. Palmer verstieg sich beim Gebrüll zu der mitgefilmten Aussage, er trage nun einen Judenstern. Das ist natürlich völliger Unfug. Weder ist Palmer Nazi, noch ist er ein verfolgter Jude.
Zweiter Fall: Gesundheitsminister Johannes Rauch twitterte, es werde Reformen geben, die "schwangeren Personen" nützen. Hatte auch Rauchs Social Media-Team Angst vor einem Shitstorm? Hätte er "schwangere Frauen" geschrieben, hätte ihm wohl irgendjemand vorgeworfen, er "mache Transpersonen unsichtbar" und irgendwer hätte getwittert, Leute wie er seien für den Hass gegen diese Menschen mitverantwortlich. Denn er hätte ja wissen müssen, dass nicht nur Frauen Kinder kriegen können, sondern auch jene, die zwar biologisch als Frauen geboren wurden, sich aber als Männer fühlen. Diese Männer mit Gebärmutter hätte er ausgeschlossen und somit diskriminiert.
Rauchs superkorrekte Wortwahl reizte wieder andere. Sofort erhob sich ein Proteststurm, weil er "Frauen gecancelt" habe. Das hatte er zwar auch wieder nicht getan, er wollte nur besonders "inklusiv" sein, aber viele empfinden es umgekehrt – und fühlen sich ausgeschlossen.
Es ist also alles sehr kompliziert in der schönen woken Welt. Es kommt nicht mehr nur darauf an, mit welcher Absicht etwas gesagt wird, sondern wie etwas gesagt wird und welches Wort dabei ausgesprochen wird. Und maßgebend ist nicht mehr, ob ein Mensch einen anderen Menschen verletzen wollte oder tatsächlich verletzte, sondern ob sich jemand "verletzt fühlt". Das Wohlbefinden jenes Menschen, der sich am meisten beleidigt fühlt, wird zum Maßstab des Sprechens aller.
Ich glaube, dass wir uns in die völlig falsche Richtung bewegen. Wenn wir eine über soziale Medien vernetzte Gesellschaft sind, die nur noch darauf abstellt, ob ein Wort, ein Buch, ein Begriff, ein Symbol verwendet wird – und nicht in welchem Kontext und mit welcher Absicht – dann bewerten wir nicht mehr die Intention des Menschen, sondern verfallen magischem Denken. Nicht mehr die Absicht des Sprechenden, also sein Wunsch und Wille als Mensch, wird zum Maßstab, sondern ein (in böser Absicht) interpretiertes – von diesem Menschen verwendetes – Wort. Dem haftet etwas Menschenfeindliches an.
Der Glaube, das Böse verschwinde, wenn ein Wort aus der Welt ist, erinnert an Lord Voldemort bei Harry Potter. Das ist der böse Geist, dessen Name niemand aussprechen darf. So ein Denken ist vielleicht auch die Wurzel des Mohammed-Bilderverbots der Muslime. Auch da fürchten Abergläubische, das Böse komme über sie, wenn sie ein Bild des Propheten sehen, er also sichtbar gemacht wird. Selbst Karikaturen, die den fundamentalistischen Missbrauch der Religion kritisieren, werden daher mit dem Tode bestraft. Manfred Deix, der alles verspottete, was er wollte, verbat es sich daher, einen Mohammed zu zeichnen. Er hatte Angst, umgebracht zu werden.
Wie kommen wir da raus? Drei Ideen dazu.
Erstens: Wir achten darauf, so zu sprechen, dass wir einander nicht beleidigen.
Zweitens: Wir berücksichtigen, dass ein Sprechakt auch von jenen wahrgenommen wird, die ihn vielleicht früher nicht registriert hätten. Die sozialen Medien sind ja kein Stammtisch, sondern eine öffentliche, globale Arena.
Drittens: Umgekehrt erkennen Menschen, die sich beleidigt fühlen, dass ein böses Wort auch in guter oder neutraler Absicht ausgesprochen werden kann und überlegen, ob sie wirklich beleidigt wurden – oder vielleicht das Gegenteil der Fall war. Und jene, die sich als Fürsprecher der Beleidigten wähnen, checken vorher, ob wirklich jemand beleidigt wurde.
Alles andere führt zu "sozialer Zensur", also zu dem, was ich in diesem Text mit vier Sternchen im ersten Absatz zur Sprache bringen wollte.
Ihr Florian Klenk
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SPARTA, der neue Film von Ulrich Seidl, ist das Bruderstück zu RIMINI und Vollendung von Ulrich Seidls Diptychon über die Unentrinnbarkeit der eigenen Vergangenheit und den Schmerz, sich selbst zu finden.
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