Schlacht am Leopoldsberg - FALTER.maily #1099
Die Ungarn kommen. Wie Kollegin Lina Paulitsch im FALTER.morgen berichtete, kauft das Mathias Corvinus Collegium (MCC) die Modul University Vienna. ...
Morgen ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung. Morgen jährt sich zum 78. Mal die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Und ich möchte Ihnen gern die Geschichte erzählen, die ich an diesem Tag vergangenes Jahr erlebt habe.
Sie hat mich zugleich unfassbar wütend und froh gemacht. Sie passierte nicht in Wien, sondern in Demmin, einer Stadt mit 10.000 Einwohner:innen mitten im Nirgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Hier stand ich zum ersten Mal rund 100 Neonazis gegenüber, die diesen Tag für ihre Propaganda missbrauchen, und traf zugleich einen Mann, der sich seit Jahren gegen sie stellt.
Während ich an diesem 8. Mai 2022 gegen 18 Uhr in Demmin am Bahnübergang stand und mir aus der Entfernung die rund 100 Neonazis anschaute, stellte sich Heinz Wittmer neben mich. Wir kamen ins Gespräch. Wittmer trug eine grüne Windjacke, wie sie gefühlt jeder hat, der im deutschen Norden in der Nähe der Küste wohnt. Er war damals 60 Jahre alt und seit 15 Jahren gegen Rechte aktiv. "Als ich 2008 von Berlin nach Demmin gezogen bin, standen da noch 300 Nazis", erzählte er. Nur rund ein Dutzend Protestierende stellten sich damals dem Aufmarsch der Neonazis in den Weg. "Es war unorganisiert und viel zu klein. Nichts, was ihnen wirklich etwas Entgegenhalten konnte."
Ich lebte zu diesem Zeitpunkt gerade zwei Jahre in der Nähe von Demmin im Norden Deutschlands. Ich wusste schon davor, dass die rechtsextreme Szene dort groß ist. Aber das, was sich jährlich in Demmin abspielt, ist außergewöhnlich. Jedes Jahr halten Neonazis hier eine Art Trauerfeier ab. Der Grund ist ein Massensuizid, der hier nach dem Kriegsende stattfand. Mehrere hundert Menschen nahmen sich das Leben. Ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2017 arbeitet die Geschehnisse auf, lässt Zeitzeug:innen zu Wort kommen. Die rechte Szene spricht jedoch fälschlicherweise von Tausenden Toten. Sie betrauert die Opfer des "russischen Feindes", indem sie Fahnen schwenkend durch den Ort zieht und einen Gedenkkranz in den Fluss legt. Jahr für Jahr. Organisiert wird der Aufzug von der NPD. Auch am 8. Mai 2022 versammelte sich die Rechte Szene wieder.
Als Heinz Wittmer diesen Marsch 2008 das erste Mal miterlebte, beschloss er zu handeln. Er organisierte gemeinsam mit anderen eine erste größere Protestdemonstration. Er schaffte es, rund 100 Leute zu mobilisieren. Schon ein Jahr darauf waren es 300. "Zum ersten Mal mehr als die Nazis", erzählte Wittmer. Ein bisschen Stolz sah ich in seinen Augen. Dabei redete er sachlich, ohne große Emotionen, ein echter Vorpommer eben. Was er mit den Pommern nicht gemeinsam hat: Er erzählte ein bisschen über sich. Eigentlich wollte er in Mecklenburg-Vorpommern Bauer werden. Ganz romantisch, raus aus der Stadt, Selbstversorger am Land. Das machte er auch. Doch die rechten Umtriebe in der Region beschäftigten ihn deutlich mehr und machten ihn zu einem der engagiertesten Aktivisten gegen Rechts in der Region.
Denn es gab in den kleinen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern kaum und wenn nur sehr unscheinbare Proteste gegen die Neonazis. Wittmer vernetzte sich, es entstand eine bundeslandübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Aktivist:innen. Seine Arbeit zeigte Wirkung. Bereits 2014 standen 600 Menschen den damals noch 300 Neonazis in Demmin gegenüber.
Es war auch jenes Jahr, in dem die Situation eskalierte. "Wir waren mehr Leute als die Polizei. Und die hatten vom Innenministerium den Auftrag, dass der Naziaufmarsch ans Ziel kommen soll. Wegen des Versammlungsrechts", sagte Wittmer. Weil so wenig Polizei da war, trafen Neonazis und Demonstrant:innen aufeinander. Zwei Polizisten fixierten einen Demonstranten so lange, dass er bewusstlos wurde und später im Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt werden musste. Demmin landete landesweit in den Schlagzeilen.
Seit diesem Tag verlief jeder 8. Mai in Demmin anders. Die Polizei war auch 2022 mit Hunden, Wasserwerfern und Räumpanzern vor Ort. Sie trugen großteils volle Ausrüstung, inklusive schwarzer Maske und Helm. Während Wittmer und ich uns unterhielten, kreisten zwei Hubschrauber über uns. Hunderte Polizeiautos und Gitterabsperrungen blockierten die Hauptstraße von den Nebenstraßen. Insgesamt waren 600 Einsatzkräfte für die rund 100 Neonazis und 250 Gegendemonstrant:innen da.
Vor drei Jahren zeigte die Leipziger Autoritarismus Studie, dass rechtsextreme Tendenzen im Osten in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Fast jeder zehnte Ostdeutsche vertrat rechtsextreme Ansichten. In der neuesten Studie von 2022 heißt es, dass die Neo-NS-Ideologie an Bedeutung verliert. Grund zum Jubeln ist das trotzdem nicht. An ihre Stelle traten andere antidemokratische Motive, wie Vorurteile und der Hass auf "Andere", etwas, das rechtsextreme Parteien bedienen. In Demmin wählte rund jeder Vierte bei der vergangenen Bundestagswahl die AfD. Ähnlich sah es in vielen ostdeutschen Gemeinden aus. Dieses Jahr legten Vertreter:innen der AfD in Gedenken an den Massensuizid einen Kranz nieder, gesondert, nicht gemeinsam mit den Neonazis. Aber Ex-AfDler mobilisierten für den Marsch.
Gegen 19 Uhr, an diesem 8. Mai vor einem Jahr, kam langsam Bewegung rein bei den Neonazis. Fahnen wurden ausgegeben, die rund 100 Personen stellten sich in Zweierreihen auf. Einige kannte Heinz Wittmer beim Namen. Die meisten kamen aus dem Umland. Als sie losliefen, läutete Wittmers Telefon: "Geht los!", sagte er, wohl zu jemanden, der die Gegendemo mitorganisierte, setzte sich auf sein Rad und düste los.
Und morgen, am 8. Mai 2023, wird Heinz Wittmer wieder in Demmin stehen, da bin ich sicher. Gut so.
Ihre Daniela Krenn
Diese Woche blieben die Titelblätter vieler österreichischer Zeitungen leer. Es war als Protest gegen das neue ORF-Gesetz gedacht. Der FALTER machte nicht mit. Barbara Tóth beschreibt im aktuellen FALTER, warum.
Wenn die Antwort hier "nein" lautet, dann immerhin: Sie sind nicht allein. Meine Kollegin Katharina Kropshofer hat sich angeschaut, warum so viele Leute eigentlich so verdammt schlecht schlafen, die Schlaflabore voll sind und die Apps zum besseren Einschlafen boomen. Und sie weiß auch, was gegen Schlaflosigkeit hilft.
Ab 9. Mai wählen Studierende die neue ÖH-Vertretung. Verlieren sich die ÖH-Wahlkämpfer in ihren Bubbles oder geht's wirklich um was, diese Frage hat meine Kollegin Magdalena Riedl beantwortet.
Es ist die Horrorvorstellung vieler Frauen: K.O.-Tropfen, die heimlich ins Getränk gemischt werden, Opfer willenlos machen und oft mit sexualisierter Gewalt enden.
In Folge 5 der 2. Staffel von „Klenk+Reiter. Der FALTER-Podcast aus der Gerichtsmedizin” spricht Dr. Christian Reiter mit Florian Klenk darüber, welche Substanzen als “K.O.-Tropfen” zum Einsatz kommen, wie sie im Körper wirken und warum die Täter so schwer überführt werden können
Jeden Freitag neu auf falter.at/gerichtsmedizin und überall dort, wo Sie Podcasts hören.
Foto: Christopher Mavrič