Wer hat an der Uhr gedreht? - FALTER.maily #1090

Katharina Kropshofer
Versendet am 15.05.2023

Noch ist die Sache nicht gegessen. Drei Wochen lang haben meine Kollegin Soraya Pechtl und ich zur Situation in Österreichs Krankenhäusern recherchiert, in der aktuellen FALTER-Ausgabe versucht, einen Überblick über die vertrackte Situation zu geben:

Fast 800 Betten sind momentan in Wien gesperrt - sie würden quasi ein gesamtes Krankenhaus füllen. Zwei Drittel der Ärzt:innen und Pfleger:innen haben schon einmal darüber nachgedacht, ihren Job an den Nagel zu hängen. Auch, weil sie ihren Job nicht mehr zufriedenstellend machen können, Angst haben, manch Leiden ihrer Patient:innen zu übersehen. 

Seither erreichen uns täglich weitere Nachrichten von Pflegerinnen und Pflegern, die über Überlastung klagen; Ärztinnen und Ärzte, die sich verarscht vorkommen, weil sie immer wieder über ihre Arbeitsbedingungen klagen, und - vor allem in Wien - nicht gehört werden (deswegen werden Sie auch in der nächsten FALTER-Ausgabe ein Interview mit dem Gesundheitsstadtrat Peter Hacker lesen - für ein Probe-Abo hier entlang). 

Eine dieser Wehklagen erreichte mich vergangene Woche: Ein Arzt in leitender Position berichtete von neuen Vorgaben, die das ohnehin schon knapp besetzte Dienstrad noch verknappen könnten. Und das aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs EuGH.

Aber von Anfang: Ein ungarischer Lokführer hatte bei der Eisenbahnergewerkschaft seines Landes geklagt: Laut seinem dort geltenden Vertrag habe er Anspruch auf zwölf Stunden Ruhezeit pro Tag. Und 48 Stunden in der Woche. Er klagte seinen Arbeitgeber, weil er vor oder nach freien Tagen oder Urlaubstagen keine Pause von elf Stunden bekam. Und gewann. Kurz zusammengefasst: Die tägliche Ruhezeit ist also nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit, stellte der EuGH fest. Ein Einrechnen der täglichen Ruhezeit in die Wochen(end)ruhe ist laut dem EuGH nicht zulässig. Und elf Stunden Ruhe pro Tag stehen Arbeitnehmer:innen zu - auch vor oder nach freien Tagen. 

In Österreich gilt täglich eine Mindestruhezeit von elf Stunden, wöchentlich eine von 36 Stunden, so steht es im Arbeitszeit- und Arbeitsruhegesetz. Für Krankenhäuser mit Personalknappheit, mit Nachtdiensten und Extraschichten, könnte die Umsetzung also besonders schwer werden. "Aktuell wäre das ein Wahnsinn", sagt der leitende Arzt, der anonym bleiben möchte. Wer am Freitag einen Nachtdienst hat und in den Samstag hineinarbeitet, dürfte de facto erst wieder am Montagabend arbeiten. Aktuell fehle dafür schlichtweg das Personal. 

Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft kommen in der Zwischenzeit besänftigende Worte. Hier seien die weiteren Entwicklungen auf EU-Ebene abzuwarten, so ein Sprecher. Inwieweit diese Entscheidung zu einer Änderung der Praxis in Österreich und zahlreichen weiteren Mitgliedern der EU führen wird, sei Gegenstand von Gesprächen auf europäischer Ebene. 

Das betroffene Krankenhaus befürchtet trotzdem, dass Arbeitsinspektorate diese Mindestruhezeiten im Sinne des Gerichtshofes prüfen werden. In E-Mails der Personalverwaltung ist bereits zu lesen, dass die Regelung umzusetzen ist, die leitenden Ärzte Diensträder anpassen sollen. "Wir haben die Anweisung, das umzusetzen, aber niemand kennt sich aus."

Ob die Strafe auch wirklich exekutiert wird, ist das eine. Aber weil niemand wisse, was die Konsequenzen sind, halten die Krankenhäuser ihr Personal dennoch zur Umsetzung an. "Es ist eine massive Verunsicherung. Und die braucht niemand in der aktuellen Situation."

Schon einmal wurde die Arbeitszeit der Ärzt:innen verkürzt. Damals befanden diese das laut einem Rechnungshofbericht für gut, ihre Belastung ging zurück. Das neue EuGH-Urteil könnte also auch positives bewirken - aber nur, wenn die Umstände passen. Was also helfen würde? Eine generell Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Anreize, damit Gesundheitspersonal auch im Spital bleibt. Eine Anpassung der Diensträder hin oder her.

Ihre Katharina Kropshofer

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