Kandidat Staatsmann - FALTER.maily #1106
Der neue SPÖ-Chef Andreas Babler hat eine große Aufgabe vor sich. Er muss als Obergenosse die Partei neu erfinden und breit aufstellen und ...
Ich muss diesen Text mit einem kleinen Eingeständnis beginnen: Ich habe einen Fehler gemacht. So habe ich in meinem letzten Maily fälschlicherweise das Mammutwerk der "Kulturgeschichte der Neuzeit" dem österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig zugeordnet, wo sich doch Egon Friedell mindestens vier Jahre daran abgemüht hatte. Ihnen als aufmerksame Leserschaft ist das natürlich gleich aufgefallen, mir, trotz mehrfacher Redigaturschleifen leider nicht. Sie verzeihen!
Ganz zufällig aber kam die Sache mit Stefan Zweig nicht.
Ich beschäftige mich seit einigen Monaten mit neuen, revolutionären Systemen der Künstlichen Intelligenz, mit der Dimension der neuronalen Netzwerke und mit ihren – unabsehbaren – Folgen. Wem der Krieg in der Ukraine, der Aufstieg Chinas und der Klimawandel noch nicht genug ist, um die gegenwärtigen weltpolitischen Kipppunkte zu untermauern, der kann guten Gewissens die neuen KI-Modelle rund um ChatGPT zitieren. "Definiere Zukunft, ChatGPT"
Es ist nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass Innovationen die Gangart, das Tempo, den Gestaltungsradius verändert haben. Die Eisenbahnen brachten die Uhrzeit, die Elektrifizierung die Urbanität, und der Wirtschaftshistoriker David Landes sah gar in der Brille eine der wesentlichsten Erfindungen der Neuzeit: Weil sie das biologische Ende eines Arbeitslebens durch abnehmende Sehkraft verhinderte und (geistliche und feinmechanische) Produktivität bis ins hohe Alter ermöglichte.
Und da spielt jetzt Stefan Zweig mit hinein.
Auf der Suche nach historischen Analogien zur Weltverdichtung à la KI habe ich mich an Zweigs – immer sehr lesenswertes Büchlein – "Sternstunden der Menschheit" – erinnert. Darin erzählt Zweig, wie es zum "ersten Wort über den Ozean", gesprochen am 28. Juli 1858, gekommen ist: Es geht um die Funkverbindung mittels Unterwasserkabels zwischen den USA und Europa. Jenen Moment, als der menschliche Wille über den "Widerstand der Materie" obsiegte.
Der erste Versuch der Kabellegung war im August 1857 noch gescheitert, hunderte Schaulustige im Hafen der irischen Valentia Island zur Verabschiedung des Fregattenschiffs mit dem Kabel in seinem riesigen Bauch hatten nicht geholfen. Nichts nützte der göttliche Segen des Priesters. Am sechsten Tag nach Auslaufen riss das Kabel aus der Spule und versank mitsamt den 300 Meilen schon verlegten Seiles am Meeresgrund. Ein zweiter Versuch scheiterte ebenfalls. Erst ein Jahr später konnten mitten auf dem Ozean die beiden Schiffe "Agamemnon" und "Niagara", aus entgegengesetzten Richtungen kommend, die beiden Enden der Kabel vernieten.
Erst jetzt konnte die englische Königin Victoria eine Nachricht an den amerikanischen Präsidenten James Buchanan schicken. 98 Worte, die Buchannan in seinem Sommerdomizil in Bedford, Pennsylvania, erreichten. Die Nachricht schloss so: "The Queen has much pleasure in thus communicating with the President, and renewing to him her wishes for the prosperity of the United States."
Der Präsident antwortete zehn Stunden später. Dann war es mit dem "communicating" vorbei. Der Kontakt brach ab, die Fernmelder verzeichneten nur noch "vage und unkontrollierbare Kunde" und "gerade nach jenem katzenjämmerlichen Festmorgen, am 1. September, kam kein klarer Ton, keine reine Schwingung mehr über das Meer", schreibt Zweig.
Das Kabel war kaputt. Erst sechs Jahre später würde der telegraphische Dienst zwischen den beiden Welten wieder aufgenommen werden. Das Entscheidende aber: Für eine Weltensekunde waren die beiden Kontinente physisch vereint. "Seit Anfang allen Denkens auf Erden hat ein Gedanke mit seiner eigenen Geschwindigkeit über das Weltmeer sich geschwungen".
Der Unterwassertelegraph veränderte die Kommunikation, den Handel, die Welt, er entkoppelte die Information von der Bewegung des Menschen und entmaterialisierte sie. Er verkabelte die Welt. Für immer.
"Der Zeitgenosse sieht ein historisches Ereignis nie im Ganzen, immer nur in Stücken”. Das hat wiederum Egon Friedell geschrieben.
Wir sehen bei der Künstlichen Intelligenz überhaupt erst den Anfang. Zwei Sachen können wir deshalb vom Unterwasserkabel lernen: Anfängliche Misserfolge sagen wenig über die potenzielle Wirkmacht einer Technologie aus. Und: Was mit wenigen Worten begonnen hat, kann in einer Neuaufstellung der Welt enden.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende
Ihre Eva Maria Konzett
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