Die dünnen Wurzeln der Demokratie - FALTER.maily #1095

Klaus Nüchtern
Versendet am 22.05.2023

Der aktuelle „Democracy Report" des V-Dem-Institute, das anhand hunderter von Indizes den „Demokratiegehalt" der Staaten dieses Globus bemisst, kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren überwiegt die Anzahl der Autokratien jene der Demokratien. 5,7 Milliarden Menschen, das sind 72 Prozent der Weltbevölkerung, leben in autokratischen Regimen. Weltweit ist das Demokratie-Niveau auf jenes des Jahres 1986 zurückgefallen, im asiatisch-pazifischen Raum sogar auf das von 1978. Tiefblaue Regionen, also quasi lupenreine Demokratien, finden sich auf der Weltkarte des Reports überhaupt nur in Australien und Teilen von Mittel- und Nordeuropa.

Österreich zählt nicht dazu. Und historisch betrachtet hat das Land ja auch keine besonders tief wurzelnde Demokratiegeschichte. 1918 führte das, was der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und Vordenker des Austromarxismus, Otto Bauer, als „Österreichische Revolution" bezeichnet hat, zum Ende der Monarchie und zur Ausrufung der Republik.

Die massiven demokratie-, sozial-, gesellschafts- und frauenpolitischen Fortschritte, die die neugeborene Demokratie mit sich brachte, ruhten freilich auf keinem breiten Konsens und erwiesen sich als entsprechend fragil. Noch in den 1920er-Jahren erfolgte der autoritäre Backlash, der sich nicht nur als den Parlamentarismus delegitimierende und verhöhnende ideologische Begleitmusik manifestierte, sondern zusehends gewalttätig Bahn brach: Im vom „Prälaten ohne Milde", dem christlich-sozialen Kanzler Ignaz Seipel, sanktionierten Polizei-Massaker an der Arbeiterschaft im Juli 1927 („Justizpalastbrand"), schließlich im Bürgerkrieg vom Februar 1934, in dem der Austrofaschismus den demokratischen Widerstand endgültig brach und die SDAP in den Untergrund und ins Exil trieb.

„Die Zerstörung der Demokratie" lautet der Titel einer Ausstellung in der Wienbibliothek im Rathaus, die heute eröffnet wurde. Begleitet wird die von den Historikern Bernhard Hachleitner und Werner Michael Schwarz kuratierte Schau von einem 328 Seiten starken und 1,7 Kilo schweren Katalog gleichen Titels. Darin werden in über fünfzig Beiträgen die auf allen Ebenen unternommenen Anstrengungen des autoritären, von manchen auch als „Kanzler-" oder „Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur" bezeichneten Regimes des Austrofaschismus beschrieben und analysiert, die dabei halfen, der jungen Demokratie das Lebenslicht auszublasen.

Dass die bis in die Zweite Republik tradierte euphemistische Rede von der „Selbstausschaltung des Parlaments" eine unhinterfragte Übernahme Dollfuß'scher Propaganda darstellt, ist längst geklärt. Der Kanzler-Diktator hatte eine Geschäftsordnungskrise – anlässlich einer umstrittenen Abstimmung waren am 4. März 1933 alle drei Nationalratspräsidenten zurückgetreten – quasi als „Geschenk" entgegengenommen (so der Historiker Béla Rásky in seinem Beitrag), um die Entmachtung der demokratisch legitimierten Legislative ins Werk zu setzen und ein halbes Jahr später in seiner berüchtigten „Trabrennplatz-Rede" frech zu behaupten: „Das Parlament hat sich selbst ausgeschaltet, ist an seiner eigenen Demagogie und Formalistik zugrunde gegangen. Dieses Parlament , eine solche Volksvertretung, eine solche Führung unseres Volkes wird und darf nie wieder kommen. […] Die Zeit der Pateienherrschaft ist vorbei". Man soll die Analogien nicht überspannen, aber die ideologische „Hier das Parlament, dort das Volk"-Rhetorik konnte man vor wenigen Jahren auch noch bei Sebastian Kurz nachhallen hören.

In einer Art Salamitaktik, die sich freilich schon sehr dicke Scheiben abschnitt, besorgten Engelbert Dollfuß & Co. – als Scharfmacher und wirkmächtige Akteure sind vor allem die offen faschistischen Heimwehrführer Emil Fey und Ernst Rüdiger Starhemberg zu nennen – den Umbau zur Autokratie. Das offizielle Schlagwort zur Legitimierung dieses Vorgehens lautete „Wegräumen des Revolutionsschutts." Tatsächlich ging es aber nicht bloß darum, die „Österreichische Revolution" von 1918 zu demontieren, sondern auch staatsbürgerliche Freiheiten, die das Staatsgrundgesetz von 1867 – ein Erbe der Monarchie – garantierte.

Die Ausschaltung des Parlaments und des Verfassungsgerichtshofes (diesfalls tatsächlich in einer Art „Selbstausschaltung": nach politisch angeordneten Reihenrücktritten der Richter beschloss der VfGH, beschlussunfähig zu sein); die Wiedereinführung von Zensur und Todesstrafe; das Regieren qua Notverordnungen (auf der legistisch äußert fragwürdigen Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917); die „Rekatholisierung und Remaskulinisierung des Staates" (Gabriella Hauch) unter anderem durch die „Doppelverdiener-Ordnung", die verheiratete Frauen aus der Erwerbsarbeit verdrängte oder die von katholischer Seite heftig akklamierte Rücknahme des „Glöckel-Erlasses" – der sozialdemokratische Schulreformer Otto Glöckel hatte die verpflichtende Teilnahme an Gebeten, Gottesdiensten oder Fronleichnamsprozessionen im Rahmen des Schullebens gecancelt –, all das waren Maßnahmen, um jene „Ruhe" und „Eintracht" herzustellen, auf die Dollfuß sich berief.

Wie grotesk dessen bekanntlich erfolgloses außenpolitisches Unterfangen war, sich in die Arme Mussolinis zu werfen, angeblich, um nicht von Hitler geschluckt zu werden, verdeutlicht schon das berühmte Foto vom 19. August 1933, das am Strand von Riccione aufgenommen wurde und den schmächtigen Kanzlerdiktator mit Anzug, Krawatte und Hut neben den in Badehosen posierenden braungebrannten Duce zeigt.

Dass der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, nicht zum Ziel führen würde, entging seinerzeit nicht einmal der durchaus regierungsfreundlichen Neuen Freien Presse, die am 9. März 1933, also wenige Tage nach Ausschaltung des Parlaments, Folgendes zu bedenken gab: Wenn „man das Parlament nicht gelten läßt, die Abgeordneten mehr oder minder als Belästigung von sich schiebt, muß da nicht erst recht das Hakenkreuz den politischen Gewinn einstreifen? Auf diese Weise findet ja ihre Parlamentsfeindlichkeit die beste Bestätigung. […] Dreht euch nicht um, die Diktatur geht um."

„Die Demokratie", so befand wiederum Bruno Kreisky in einem Gespräch, das er für den Katalog zur Ausstellung „Die Kälte des Februars" (1984) mit den Kuratoren Helene Maimann und Siegfried Mattl führte, „ist in Österreich nicht verankert; sie hat sehr dünne Wurzeln, die sich mühsam in den fast vierzig Jahren gefestigt haben. Es gibt heute eine gewisse demokratische Tradition, aber ich bin nicht der Meinung, daß wir im sicheren Besitz der Demokratie sind."

Vierzig Jahre nachdem sie geäußert wurden, haben Kreiskys Worte leider nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Ihr Klaus Nüchtern

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