Es gibt schon wieder eine Kurz-Doku - FALTER.maily #1197
Hierzulande liegen Satire und Realität eng beieinander. Die Kurz-Film-Posse ist so ein Beispiel. Nachdem die Produktionsfirma eines PR-Films ...
Gestern scrollte ich ein bisschen auf meinem Smartphone und öffnete die Video-App TikTok. Das ist zwar ein extrem stressiges Unterfangen (kurz gesagt: Youtube auf Speed). Aber ich möchte natürlich nicht verpassen, was sich 1,5 Milliarden, vor allem jugendliche Menschen täglich ansehen. Und immer, wenn ich mich ins digitale All begebe, entdecke ich völlig neue, oft skurrile, jedenfalls interessante Dinge.
Diesmal machte ich eine creepy experience. Auf TikTok gibt es dutzende neue Accounts, die True Crime-Geschichten präsentieren, also Kriminalfälle, die tatsächlich passiert sind. Der Clou dabei: Die Opfer, Mörder oder Kläger erzählen ihre Erlebnisse selbst – nämlich als lebendig wirkende Menschen. Ihre Gesichter wurden mithilfe von Künstlicher Intelligenz kreiert.
Ich stolperte über die Erzählung eines kleinen Mädchens, das sich mir als Marina Sabatier vorstellte und dann sagte: "Ich wurde von meinen eigenen Eltern ermordet." Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das Kind spricht zwar abgehackt, die Lippenbewegungen sind auch etwas steif. Aber das Video sieht doch einigermaßen realistisch aus.
1,7 Millionen Leute haben es bereits angesehen. Dem zugehörigen Account "Lebendige Geschichten" folgen knapp 500.000 Menschen. Unter dem Hashtag #animatedhistory finden sich auf TikTok hunderte Videos von Kindern, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden. Die drogenabhängige Christiane F. etwa, auf "EchtUnglaublich". Oder der Serienmörder und Vergewaltiger Robert Christian Hansen des Accounts "Fesselnde Geschichten".
Im Zeitalter der KI ist das die Pervertierung eines bereits bestehenden Trends. True Crime boomt in allen Formaten. Die erfolgreichsten Netflix-Serien – von "Dahmer" bis "I am a Killer" – basieren auf wahren Begebenheiten. Auch Podcasts garantieren eine gute Klickquote, wenn sie historische Gräueltaten nacherzählen – von Jack Unterweger bis Klenk+Reiter des Falter Verlags. Während 2017 nur 43 deutschsprachige Folgen von True Crime-Podcasts produziert wurden, waren es im Jahr 2022 schon 2715.
Aber warum interessieren sich 1,7 Millionen Menschen für das ermordete Mädchen Marina Sabatier? Und warum lieben wir die Geschichten von wahren Serienmorden?
Laut dem US-Psychologen Coltan Scrivner befriedigt der Mensch damit seine "morbide Neugier". Evolutionsbiologisch ist das eine wichtige Eigenschaft, weil sie uns vor Gefahren schützt. Killerserien aktivieren Teile des Gehirns, die Informationen sammeln, um Bedrohungen mental zu simulieren. Lust bereitet uns die Neugier: Sie reizt uns, zu beobachten und Gefahrensituationen durchzuspielen – um letztlich nicht selbst als Opfer darin vorzukommen.
Aber was aktuelle Studien auch sagen: True Crime-Fans sind tendenziell ängstlicher. Frei nach dem Motto – "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" – kann man sagen: Durch wahre Verbrechen kommen manche erst auf die Idee, wo überall Gefahren lauern könnten. Mithilfe von KI-Programmen, die Videobilder von Personen realitätsgetreu nachahmen, potenzieren sich jetzt die Möglichkeiten der Simulation von Mord und Totschlag. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mich fröstelts.
Ihre Lina Paulitsch
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Falls Sie sich auch fragen, ob TikTok einfach so Videos von echten ermordeten Personen rausspielen darf: In diesem Artikel im Rolling Stone kommt der US-Strafrechtler Paul Bleakley zu Wort. Deepfakes könnten vor allem Angehörige der verstorbenen Personen retraumatisieren, sagt er. Die Familien könnten deshalb juristisch gegen die Accounts vorgehen – ob sie damit Erfolg haben, steht in den Sternen. "It’s a very sticky, murky gray area", so Bleakley.
Paul Buschnegg, Sänger der Band Pauls Jets, hat sich im Feuilleton der Frage gewidmet, warum die Klimabewegung eigentlich keinen eigenen Sound hat. Auf Demos fehlt die Party, so seine Analyse – und das sollten Popmusiker:innen ändern.
Unser Leser Sebastian Deiber hat sämtliche Protestsongs, die mein Kollege Gerhard Stöger hier auflistet, in einer Playlist zusammengefasst. Als Soundtrack für Ihren Protesttag, wir danken sehr herzlich!
Der aktuelle FALTER-Podcast widmet sich den Turbulenzen der europäischen Sozialdemokratien. Über den Machtkampf in der SPÖ und den Hintergrund in Europa diskutieren bei Raimund Löw der EU-Abgeordnete Andreas Schieder (SPÖ), die Politologin Sieglinde Rosenberger, der Publizist Robert Misik und FALTER-Chefreporterin Nina Horaczek.
Im FALTER-Buchpodcast ist diese Woche Caroline Wahl zu Gast. In ihrem neuen Roman "22 Bahnen" spielt die Mathematik eine große Rolle, denn Zahlen sind wichtig im Leben der Protagonistin Tilda. Sie studiert Mathematik und schwimmt im Schwimmbad immer 22 Bahnen. Für Moderatorin Petra Hartlieb ist die Geschichte von Tilda und ihrer kleinen Schwester Ida einer der schönsten "Coming of Age"-, Liebes- und Geschwisterromane überhaupt, wie sie in der neuen Podcast-Folge durchklingen lässt. Und auch die Büchertipps sollten Sie sich nicht entgehen lassen, sie kommen diesmal von Katharina Kropshofer.