Es gibt schon wieder eine Kurz-Doku - FALTER.maily #1197
Hierzulande liegen Satire und Realität eng beieinander. Die Kurz-Film-Posse ist so ein Beispiel. Nachdem die Produktionsfirma eines PR-Films ...
Ich schreibe Ihnen diese Zeilen aus meinem Kärntner Jugendzimmer. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich heute wie damals nichts als Wälder und Wiesen, nur die Kühe auf der Weide scheinen mehr geworden zu sein. An diesem Schreibtisch habe ich einst auf der Schreibmaschine erste Plattenkritiken für ein Wiener Hardcore-Punk-Fanzine getippt. Sie waren verkorkst, wichtigtuerisch und unbeholfen, aber ich bin mir ziemlich gut dabei vorgekommen. Mein jüngeres Ich ist wahnsinnig weit weg – und in diesem Moment doch zum Greifen nah.
Der Grund für den Ausflug in den Süden: Morgen ist 30-jähriges Maturatreffen. Wie seltsam. 30 Jahre, das ist ein halbes Leben. Oder, wenn es blöd läuft, mehr als ein ganzes. Und doch sind meine Erinnerungen ans Frühjahr 1993 noch extrem präsent. Der Vollrausch, den ich nach der schriftlichen Matura hatte. Die Wochenenden vor der Mündlichen, die ich lieber mit Bandproben anstatt mit Lernen verbracht habe (um dabei etwas Wichtiges zu lernen: In meinem völligen Mangel an Musikalität war ich selbst als Schreivogel einer Punkband ungeeignet). Die mündliche Matura selbst, die dann eh ein großer Spaß und so einfach wie erhofft war (die Schule fiel mir glücklicherweise immer leicht).
Dieses einmalige Gefühl danach: „Nie mehr Schule! Mir gehört die Welt! The Future is unwritten, aber ich fange heute damit an!“, gemischt mit alterstypischer Unbeholfenheit und Orientierungslosigkeit. Und dann auch noch frisch verliebt. 1993, was für ein Sommer!
Dass mich diese Erinnerungen nun stärker als bei bisherigen Maturatreffen berühren, mag daran liegen, dass meine jüngere Tochter derzeit inmitten ihrer „Reifeprüfung“ steckt. Schriftlich ist schon alles gut gelaufen, mündlich folgt demnächst. Und obwohl 30 Jahre vergangen sind, habe ich das Gefühl, dass sich am Kern des Übels Schule in Österreich nichts geändert hat (vom Grundübel der nach wie vor fehlenden Gesamtschule einmal ganz zu schweigen).
Problem eins: Der Lehrplan verunmöglicht es jungen Menschen, persönliche Schwerpunkte zu setzen respektive individuelle Interessen und Neigungen zu vertiefen. Problem zwei: Die Richtlinie allen Handels ist das Mittelmaß – „gute“ Schüler:innen langweilen sich dabei, andere leiden an Überforderung. Problem drei: Anstatt Lust auf Wissensaneignung wird nach wie vor ein Training for the Test vermittelt, im Unterschied zu meiner Schulzeit noch grotesk befeuert durch die Zentralmatura, die als Damoklesschwert über allem schwebt.
Wenn ich den Begriff „Textsorten“ schon höre! Die Auseinandersetzung damit prägt heute die ganze Oberstufe hindurch den Deutschunterricht, denn eine dieser Textsorten kommt ja zur Matura. Und wehe, du erfüllst den starren Kriterienkatalog der jeweiligen Textsorte nicht. Ziel der Übung: Normierte Texte von gepflegtem Mittelmaß. Kollateralschäden: Zu wenig Platz für freies Schreiben im Deutschunterricht, zu wenig Platz für die Beschäftigung mit Literatur und überhaupt: Die Textsorte als massiver Angriff auf die Lust am Schreiben.
Und dann erst dieser Mathematik-Terror, der stets neuen Generationen junger Menschen schlaflose Nächte und den Nachhilfe-Lehrer:innen des Landes ein prall gefülltes Börserl beschert. Die zugehörigen Phrasen von der „Allgemeinbildung“ und den „gewissen Standard, die nun einmal nötig sind“, könnten hohler nicht sein. Medienkompetenz, der Umgang mit dem Internet im Allgemeinen und Social Media im Speziellen, das Erkennen von Fake News, Debattenkultur, die Einordnung von KI – all diese heute so ungemein wichtigen Skills kommen in einem österreichischen Oberstufen-Gymnasium aktuell allenfalls unter „ferner liefen“ vor, während zugleich Textsorten trainiert und nerdige mathematische Textaufgaben zum Standardrepertoire erklärt werden.
Zu allem Überdruss fehlt jungen Menschen nach zwölf, 13 Jahren Schule auch noch die Lebensorientierung. Was tun nach der Matura, um was zu werden? Welche Optionen habe ich? Welchen Weg möchte/könnte ich einschlagen? Die Schule hat meiner Maturantinnentochter dazu nichts vermittelt. Sie möchte das Klima retten und für Gerechtigkeit sorgen. Dass ein Jus-Studium womöglich kein schlechtester Grundstock wäre, mag sie mir nicht so recht glauben. Aber gut, wer will es ihr verdenken. Wohlwollende Menschen haben auch mir vor 30 Jahren dieses Studium nahe gelegt; für mich aber war klar, dass ich Politikwissenschaft studieren will, wie meine Wiener Hardcore-Punk-Fanzine-Bekannten.
Ganz wichtig: Bitte fühlen Sie sich nicht persönlich angegriffen, falls sie Lehrer:in sind. Ich weiß, dass sehr viele von Ihnen sehr engagiert sind und die kleinen Ermessensspielräume, die Ihnen die Lehrpläne und Vorgaben lassen, gut nützen. Sie sind nicht das Problem. Das Problem ist ein System, an dem sich gefühlt kaum etwas verändert hat in den letzten 30 Jahren.
Wenn ich mir was wünschen dürft': Ich möchte nicht, dass dereinst auch meine Enkelkinder unter diesen Voraussetzungen maturieren müssen.
Schönes Wochenende,
Ihr Gerhard Stöger
Die Neunziger hatten definitiv stärkere Popjahrgänge als 1993. Bei den folgenden drei Liedern meines Maturajahrs geht mir aber noch heute das Herz auf: Bikini Kills „Rebel Girl“ (neben „Smells Like Teen Spirit“ der alles überstrahlende Rocksong der 90er), Liz Phairs rotziger Indiekracher „Fuck And Run“ und der Hip-Hop-Klassiker „Sound Of Da Police“ von KRS-One.
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