Rammstein: Was nun?

Gerhard Stöger
Versendet am 23.06.2023

"I believe Anita Hill" erklärten Sonic Youth 1992 im Song "Youth Against Fascism", "Ich glaube Anita Hill". Der Titel des Liedes kommt darin nie vor, statt eines Refrains singt die US-Noisepopband immer wieder die Zeile "It’s the Song I hate". Ihr Hass traf den Ku-Klux-Klan ebenso wie den jungen Skinhead-Schläger oder den US-Präsidenten George W. Bush. Er galt der Notwendigkeit, immer noch derart explizit gegen rechts ansingen zu müssen – und dem Umstand, dass die Solidarität mit Anita Hill nicht selbstverständlich war, sondern als progressiv galt.

Die Juristin Anita Hill, 1956 in Oklahoma geboren, wurde Anfang der Neunziger als Opfer toxischer Männlichkeit bekannt. Oder besser gesagt: Als eine Mutige, die das Schweigen über scheinbar alltägliche Zumutungen bricht. Hill hatte 1991 ihren einstigen Vorgesetzten Clarence Thomas der sexuellen Belästigung bezichtigt, als dieser an den Obersten Gerichtshof berufen werden sollte.

Der konservative Richter Thomas ist noch heute Teil dieses Gremiums, während Hill damals mit dem Vorwurf der Falschaussage konfrontiert war und in weiterer Folge ihren Uni-Job verlor. Sie machte dennoch Karriere, arbeitete im US-Bildungsministerium und ist heute Professorin an der Universität in Massachusetts.

Anita Hill kam mir in den Sinn, als vor drei Wochen der Skandal um Till Lindemann ausbrach. Viele Frauen werfen dem Sänger der deutschen Rockgruppe Rammstein sexuelle Übergriffe vor; die befremdliche Reaktion des Sängers lautet: einschüchternde Klagedrohungen, die mutmaßliche Opfer mundtot machen und kritisch berichtende Medien verunsichern sollen.

Ich sag mal so: I believe Anita Hill, auch im Fall Lindemann. Was allerdings nicht heißt, dass dieser nun auf der Stelle mit Berufsverbot zu belegen sei. Das wäre er noch nicht einmal als tatsächlich überführter und verurteilter Straftäter. Du kannst theoretisch im Gefängnis sitzend zum US-Präsidenten gewählt werden. Du kannst praktisch als Steuerbetrüger nach Verbüßen deiner Haftstrafe wieder zum Chefstrippenzieher des größten deutschen Fußballvereins werden. Und du könntest, rein hypothetisch gesprochen, als gerichtlich überführter Missbrauchstäter Rockkonzerte spielen.

Eine dieser Tage wenig gestellte, aber zentrale Frage ist freilich, wie Hörer*innen mit der Kunst von Täter*innen respektive schwerwiegend Beschuldigten umgehen. Muss jede*r für sich entscheiden, und wie immer gilt: Wer tatsächlich reinen Herzens ist, werfe bitte trotzdem nicht den ersten Stein.

Ich halte etwa den britischen Sänger Morrissey für einen narzisstisch gestörten, misanthropen, rechten Kotzbrocken. Gleichzeitig aber ist er, als Solokünstler und mit seiner ex-Band The Smiths, für einige der wunderbarsten Popsongs der vergangenen 40 Jahre verantwortlich – die er obendrein auch noch derart ergreifend singt, dass ich beim Hören nach wie vor mindestens dreimal "Ach!" seufze, bevor ich grummelnd "Aber: Kotzbrocken!" hinterherschiebe. Konzert von ihm würde ich mir heute allerdings keines mehr ansehen. Ich hätte das Gefühl, mit meinem Ticketkauf eine Haltung finanziell zu unterstützen, die ich ablehne.

Rammstein sind gegenwärtig auf großer Stadiontournee, Ende Juli stehen zwei – längst ausverkaufte – Wientermine an. Vergangene Woche habe ich in einem Kommentar dargelegt, warum die Forderung nach einer Absage moralisch nachvollziehbar, sachlich aber hochproblematisch ist.

Ich erhielt Zuspruch und Widerrede, die interessante Diskussionen ausgelöst hat – und es kam auch ein anonymer Leserbrief, den ich Ihnen gern zeigen möchte, samt eigenwilliger Ortho- und Typografie: oida! du host wui übahaupt nix vataundn im lebn. dea rammstein-oasch iss a totala fascho + sexist + gewalttäter ! und wer net gegn konzert-obsoge iss, mocht si mitschuidig ! wehret den anfängen !! !

Ich musste lächeln. Von wegen: Wer für eine Konzertabsage sei, mache sich des Faschismus, Sexismus und der Gewalt mitschuldig (so die Übersetzung der verkorksten Wutrede). Ist aber halt nur leider kein bisschen lustig.

Das gilt für diverse selbstgerecht moralisierende Rammstein- respektive Lindemann-kritische Debattenbeiträge. Das gilt erst recht für viele mehr oder weniger offen misogyne Lindemann-Verteidigungsreden. Und vor allem gilt es für die Hauptsache, die bei allem Gedröhne gerade ein bisschen ins Hintertreffen gerät: Die Situation jener mutigen Frauen, die ihre Erfahrungen mit dem Rockstar publik gemacht haben (es gilt die Unschuldsvermutung).

Trotz allem ein schönes Wochenende,

Ihr Gerhard Stöger


Zum Nachlesen

Anlässlich ihres aktuellen Buches "Believing – Our Thirty-Year Journey to End Gender Violence" gab Anita Hill dem SZ-Magazin im März 2022 ein spannendes Interview. Sie können es hier nachlesen.


Zum Hören

Die Zahlen 60 und 90 standen in meiner Jugend für Musikkassetten mit wahlweise einer oder eineinhalb Stunden Laufzeit. Man hat sie ziemlich teuer leer gekauft und dann mit Musik seiner Wahl von Schallplatte befüllt. Mixtapes dienten dazu, Herzen zu erobern, Beziehungen zu pflegen, Originalität zu demonstrieren oder einem popkulturellen Bildungsauftrag nachzukommen. Im aktuellen FALTER steht die Chiffre 60/90 für etwas Ähnliches, wenn auch ganz anders: Ich habe eine Playlist mit 60 prägenden Songs der 1990er zusammengestellt, hier können Sie hineinhören.


Aus dem Falter

Auf die Idee zur Playlist hat mich ein Interview mit dem deutschen Autor und Pop-Denker Jens Balzer gebracht, das Sie im dieswöchigen FALTER finden. Sein empfehlenswertes neues Buch "No Limit" analysiert die gesellschaftliche und politische Entwicklung der 90er-Jahre unter besonderer Berücksichtigung ihrer Popkultur. Spoiler: Es war nicht alles gut, was wir womöglich als gut in Erinnerung haben.


Aus der Falter:Woche

Von 23. bis 25. Juni findet das Donauinselfest zum 40. Mal statt. Einen Wegweiser durch das umfangreiche Programm bietet unsere Kultur- und Programmbeilage. Sollte Ihnen der Sinn am Wochenende eher nach Unkonventionellem stehen, ist "The Invisible Tour" ein guter Tipp: Wien erforscht dieser Performance-Spaziergang als Ort der Spionage. Auch dazu finden Sie zweckdienliche Hinweise in der FALTER:Woche.

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