Bericht aus Kiew

Raimund Löw
Versendet am 25.06.2023

Während die Söldner der Wagner-Gruppe gestern auf Moskau marschierten, erlebte die Ukraine die heftigsten Luftangriffe seit langem. Vier Mal heulten vorletzte Nacht in der Hauptstadt Kiew die Alarmsirenen. Eine abgeschossene Rakete landete in einem Wohnhaus, es gab Tote und Verletzte. Im Radisson Hotel im Stadtzentrum kann Ihr Mailyschreiber inzwischen den Weg in den Shelter auch schlaftrunken ganz gut meistern. Nach anfänglichen stressigen Irrwegen, um ehrlich zu sein. Die letzte Nacht war glücklicherweise ruhig.

Wer im Luftschutzkeller nicht döst, verfolgt auf dem Handy den Onlinedienst Telegram mit seinen unzähligen russischen Kanälen, in denen Informationen ohne Zensur und Beschönigung ausgetauscht werden. Söldnerchef Jewgeni Prigoschin hat zuerst mehr als ein Dutzend Aufrufe zum Kampf gegen die russische Generalität gebracht. Gestern Abend verkündete er dort den Rückzug.

Es ist eine wirre und verwirrende Situation, die in der Ukraine hautnah verfolgt wird. Der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow meldet sich mit der Botschaft an die Bürger, die unglaublichen Ereignisse beim Kriegsgegner seien ernst, es handelt sich nicht um Fake News. Präsident Volodymir Selenskyi liefert die politische Interpretation: Der Aufstand der Wagner-Leute zeigt die Schwäche Russlands, schreibt er. Wer unser Land besetzt, bringe eben Chaos für das eigene Volk. Mit ihrem Widerstand schütze die Ukraine ganz Europa vor dem russischen Chaos.

Langsam keimt bei den Menschen die Hoffnung, dass jetzt die Zeit gekommen sein könnte, auf die die Ukraine und die halbe Welt gewartet hat: Die russische Kriegspartei hat sich gespalten. Ein Staat mit einer Führung, die sich selbst zerstört, kann schlecht weiter Krieg führen wie zuvor, so lautet die Interpretation der Optimisten.

Auf Telegram und Twitter herrscht Hohn und Spott in der Ukraine. Wenn sich die Russen untereinander bekriegen, anstatt uns zu bekämpfen, dann ist das eine gute Nachricht, ist zu lesen. Innerhalb von 48 Stunden wird sich das Schicksal Putins entscheiden, glaubt ein hoher Berater Selenskjis. So wie es aussieht, behielt er die Oberhand.

Prigoschin hat in den letzten Tagen über angebliche Kontakte mit dem ukrainischen Geheimdienst gesprochen. Er äußerte sich respektvoll über den Kampfgeist der Ukrainer. Der russische Angriff vom 24. Februar 2023 wäre eine Idee von Verteidigungsminister Shoigu gewesen, er könne bei einem Erfolg möglicherweise zum Marschall aufsteigen. Das wäre das Gegenteil der offiziellen russischen Behauptung, dass angebliche ukrainische Provokationen dem Kreml keine andere Wahl ließen, als seine spezielle militärische Operation in Gang zu setzen. Aber Jewgeni Prigoschin ist ein Killer, das wissen die Ukrainer mehr als andere. Ob der Söldnerführer das Manöver gegen seinen Erfinder und obersten Chef Putin physisch überleben wird, bezweifelt so mancher der ukrainischen Kommentatoren im Internet.

Putin mag diesen ersten offenen Anschlag auf seine Macht überstanden haben. Andere werden folgen. Kein Diktator regiert ewig, besonders dann nicht, wenn er in einem von ihm angezettelten Krieg nicht erfolgreich ist. Und die Ukrainer? Die sehen sich durch die Ereignisse in Russland zurecht ermutigt.

Ihr Raimund Löw


Begegnung mit Selenskyi

Aus Kiew berichte ich auch aus diesem Video-Beitrag für FALTER.tv. Vom ukrainischen Präsidenten Volodymir Selenskyi, den ich am Rande eines Kulturevents getroffen habe, wollte ich wissen, wie Europa die Ukraine weiter unterstützen kann.


Gespräche über Aktivismus

Das FALTER Radio bietet diese Wochenende Stoff für Streitkultur. Seit gestern online: dieses Gespräch von Katharina Kropshofer mit Greenpeace-Geschäftsführer Alexander Egit. Die Umwelt NGO wird heuer 40. Hier wiederum finden Sie ein Gespräch von Florian Klenk mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann, der vor dem "Klimakatastrophismus" radikaler Aktivist:innen warnt, der die Menschen eher verschrecke, als sie mitzunehmen.


Ein wirklich alter Popsch

Manche Dinge findet man nur bei einem Gerichtsmediziner zuhause - ein Stück von Ötzis Popsch, zum Beispiel. In der 12. Folge von "Klenk+Reiter" erzählt der Gerichtsmediziner Dr. Christian Reiter, wie die Gewebsbrösel vom Hintern der ältesten Mumien der Welt in seinen Besitz gelangt sind. Und Christian Reiter wäre nicht Christian Reiter, wenn er diese Brösel nicht einer genauen Prüfung unterzogen hätte, an deren Ende nicht weniger stand, als dass die bisherige Theorie zum "Mann aus dem Eis" nicht länger haltbar ist. Hier hören Sie die Folge!

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