Dort hilft kein Gott

Nina Brnada
Versendet am 29.06.2023

In Wien Kaisermühlen unter den U-Bahngleisen der Linie 1 findet Europas längster andauernder Protest gegen das iranische Regime statt. Seit mittlerweile 277 Tagen kampieren dort Aktivistinnen und Aktivisten, die auf Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik aufmerksam machen. Vor dem Eingang der UNO-City sind Tag und Nacht mindestens drei Personen zugegen. In London gibt es zwar eine ähnliche Aktion, verglichen mit der Wiener Kundgebung liegt sie aber um 150 Protesttage zurück.

Ein Zelt, ein Tapeziertisch, Informationsbroschüren. Mittlerweile ist das Camp auch ans Stromnetz angeschlossen, nachts brennt dort Licht und die Lämpchen am WLAN-Router flackern. Die treibende Kraft hinter der Kundgebung sind die Physikerin und Frauenrechtlerin Sholeh Zamini und ihr Ehemann Hassan Nayeb-Hashem, Aktivist und Allgemeinmediziner in Floridsdorf.

Vor 40 Jahren kamen sie als politische Flüchtlinge nach Österreich, ihr Leben haben sie dem Kampf für Menschenrechte verschrieben. Nayeb-Hashem hat kaum Freizeit, was brauche er Urlaub, sagt er, wenn unschuldige Menschen im Gefängnis sitzen und gefoltert werden.

So edel die Motive der Eheleute sind, so aufgelegt ist die Frage: Was soll das alles bringen? Das Protestcamp in Wien wird das Teheraner Regime nicht zum Wanken bringen – wozu das Ganze also?

Die Antwort darauf liefert Kamran Ghaderi. Sein Bild hing unter jenen von rund 600 Gefangenen, die um das Zelt unter der U1 angebracht sind und auf deren Schicksal die Aktivistinnen und Aktivisten unnachgiebig aufmerksam machen.

Ghaderi ist ein iranisch-österreichischer Doppelstaatsbürger, ein Geschäftsmann und IT-Spezialist. 2015 war er sogar Mitglied der österreichischen Delegation, die den damaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer auf seiner Iran-Reise begleitet hatte. Am 2. Jänner 2016 – nur wenige Monate nach dieser Reise – verhafteten ihn iranische Polizisten am Teheraner Flughafen. Das iranische Regime warf ihm Spionage vor. Ghaderi gestand – unter Folter. Er saß im berüchtigten Gefängnis Evin, das die Insassen "die Hölle" nennen. Nach siebeneinhalb Jahren kam Ghaderi frei. Zwei Tage nach seiner Enthaftung besuchte er das Protestcamp in Kaisermühlen. Mit gutem Grund.

Denn derlei Protestaktionen bringen vielleicht nicht die Mullahs ins Wanken, aber sie stärken jene, die von ihnen verfolgt werden. Ghaderi erzählt in seinem ersten Interview, das er Anfang der Woche dem FALTER gab, dass ihm seine Frau Kraft gegeben habe und das Wissen, dass da jemand sei und an ihn denke. "Dort hilft kein Gott", sagt Ghaderi. "Aber wenn man hört 'Du bist nicht allein', dann hilft das."

Ghaderi ging zu seinem folierten Bild und löste es vorsichtig herab. Er ist in Freiheit. Die Konterfeis der anderen hängen immer noch dort. Hunderte verharren immer noch in der Hölle.

Ihre Nina Brnada

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Podcast

Das Gespräch mit Kamran Ghaderi können Sie sich hier als Podcast anhören.


Spaß oder Schikane?

Ein Grundwehrdiener erhebt Vorwürfe gegen das Bundesheer. Flüchtlinge seien in der Nacht am Feldweg schikaniert worden, ein Gardekommandant hätte rassistisch agiert. "Alles nur ein Spaß", kontert das Heer, der Rassismus sei nicht beweisbar. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, Florian Klenk schreibt hier über den Fall. Das Video, das die vermeintlichen Schikanen zeigt, wurde dem FALTER zugespielt. Sie finden es ebenfalls auf unserer Website.


Hörtipp

Raimund Löw reiste mit einer Delegation des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen in die Ukraine. Im Gespräch mit Florian Klenk berichtet er vom allnächtlichen Luftalarm und von der Stimmung in Kiew während des Marsches der Wagner-Truppen auf Moskau.


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