Bären im Gemeindebau, Jazz unter der Brücke - FALTER.maily #1199
Dass alles, was Konventionen und Grenzen ignoriert, sprengt und überschreitet, als „progressiv" zu gelten hat, ist ein liebgewonnenes ...
Vergangene Woche twitterte der Krone-Journalist Claus Pándi er habe einen "weisen Rat" erhalten. Am vergangenen Freitag habe die österreichische Innenpolitik "ein anderes Thema".
Pándi hatte offenbar das Gerücht aufgeschnappt, wonach der Weisungsrat, ein Beratungsgremium der Justizministerin über den Strafantrag gegen Sebastian Kurz entscheiden würde. Der Rat erwies sich als falsch. Schade. Und eine Zumutung für Kurz. Die Oberbehörden (Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck und BMJ) lassen den wider ihn erhobenen Strafantrag wegen falscher Zeugenaussage nun seit über einem halben Jahr liegen. Kurz' Anspruch auf ein schnelles Verfahren wird beschädigt.
Worum gehts? Seit mehr als zwei Jahren ermittelt die WKStA gegen Kurz wegen dreier Delikte. Untreue (Steuergeld für ÖVP-Studien), Bestechung (öffentliche Inserate für wohlwollende Berichterstattung) und falsche Zeugenaussage vor dem U-Ausschuss (hier ein Erklärvideo dazu).
Im Januar dieses Jahres, nach Auswertungen von Handys, Akten und Geständnissen, entschied sich dann die WKStA laut Medienberichten dazu, den ersten Strafantrag zu verfassen. Sebastian Kurz sollte sich wegen falscher Zeugenaussage vor einem öffentlichen Gericht verantworten. Der Bundeskanzler, so der Vorwurf, habe über seine Rolle bei der Bestellung von Thomas Schmid zum Vorstand der staatlichen Industriebeteiligungsholding ÖBAG bewusst gelogen. Er habe als Vertreter der Exekutive die ihn kontrollierenden Organe des Nationalrats falsch informiert.
Es geht also schon um viel. Die Weisungsabteilung der Ministerin muss die Sache daher prüfen und genehmigen. Doch das geschieht seit mehr als fünf Monaten nicht. Entweder ist die zuständige Weisungsabteilung nicht willens, die Anklage binnen weniger Tage zu lesen und freizugeben (oder zurück zu schmeißen). Oder sie vertrödelt das Verfahren - auch zum Nachteil von Sebastian Kurz - aufgrund von struktureller Überforderung.
Diese Verschleppungen von sogenannten clamorosen (also Aufsehen erregenden) Verfahren sind ein grundsätzliches Problem. Die Gründe sind vielfältig: Beschlagnahmte Beweise von Geheimnisträgern (etwa Chats von Journalistinnen oder Steuerberatern) können nur mühsam gesichtet werden, weil die Haft- und Rechtsschutzrichter chronisch überlastet sind - und das Ministerium das Personal nicht aufstockt. Im Ministerium hängen Fälle oft monatelang, weil die Ministerialbeamten der Weisungsabteilungen krank, komplett überlastet oder führungslos sind – oder einfach nur ihren Arbeitsanfall falsch managen. Und manchmal bleiben Akte einfach liegen, weil sie politisch unangenehm sind.
Die Konsequenz: überlange Verfahren, die die Beschuldigten Geld und Lebensqualität kosten – was ihnen niemand ersetzt – und die WKStA als unfähige Schneckenbehörde da stehen lassen. Wer ist verantwortlich? Die Justizministerin. Sie muss das Prozessmanagement verbessern und ihren Beamten im Fall Kurz klare Deadlines setzen.
Ihr Florian Klenk
Lange Verfahren, hohe Kosten, schwammige Vorwürfe: Im Fall Kurz wird von der Litigation-PR ziemlich viel vernebelt. Die Wiener Strafrechtsprofessorin Ingeborg Zerbes erklärt in diesem FALTER-Podcast, welche juristischen Vorwürfe die WKStA untersucht und welche Reformen im Strafrecht nötig sind, um schneller und fairer zu ermitteln. Ausserdem können Sie hier auch erfahren, was Strafrechtsprofessoren eigentlich sonst so machen. Ein kleines, feines Strafrechtsprivatissimum.
Gehen Sie manchmal bei der Dämmerung durch den Wald? Haben Sie dort schon einmal Füchse, Dachse, Rehe bestaunt? Stellen Sie sich dann folgende Zahl vor. Jedes Jahr werden in Österreich 286.000 Rehe, 89.000 Hasen, 70.000 Füchse, 47.000 Fasane, 7.000 Murmeltiere – und sogar 1.800 Rebhühner erschossen. Ist das eigentlich notwendig? Eine Gruppe von Jägern sagt: Nein und fordert per Volksbegehren ein modernes Bundes-Jagdgesetz. Gerlinde Pölsler hat mit neuen und alten Jägern gesprochen. Ihre dieswöchige Titelgeschichte finden Sie hier.
Islamistische und rechtsextreme Tatverdächtige beschäftigen gerade den österreichischen Verfassungsschutz. Als ob der angesichts des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine nicht ohnedies genug zu tun hätte. Zeit also für ein Gespräch mit Omar Haijawi-Pirchner, dem Chef der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst. Sie können es hier nachlesen.
In der frischen Tragikomödie "Mermaids Don’t Cry" springt Stefanie Reinsperger als Meerjungfrau ins Becken. Michael Omasta hat mit der umwerfenden Schauspielerin über ihre Zeit als Buhlschaft, Bodyshaming und die Mühen der "Beflossung" gesprochen. Und Iseult Grandjean liefert eine kurze Kulturgeschichte der Meerjungfrau dazu – von ihren sirenenhaften Ursprüngen zu ihrer Befreiung aus dem Patriarchat.
Impulstanz wird vierzig und feiert von 6. Juli bis 6. August mit extra üppigem Programm. Sara Schausberger stellt in der Titelgeschichte unserer Kultur- und Programmbeilage ausgewählte Highlights der internationalen Performance-Festivals vor. Was die Wiener Open-Air-Kinos diesen Sommer bieten, erfahren Sie im kompakten Überblick von Michael Omasta. Welche Theaterstücke, Konzerte, Lesungen, Kunstausstellungen oder Filmneustarts darüber hinaus einen Besuch lohnen, steht wie immer in den Kritiken und Empfehlungen weiter hinten im Blatt.
Die Presse ist nicht nur eine gut gemachte Zeitung, sie hat auch eine lange Geschichte. Nun feiert sie den 175. Geburtstag. Wir vom FALTER gratulieren den Kolleg:innen. Oliver Pink war übrigens kürzlich zu Gast und hat mit mir über Journalismus gesprochen. Das Gespräch, das die Gemüter der ÖVP Niederösterreich erregt hat, finden Sie hier.
Ich bin derzeit etwas irritiert über die neue Anti-Papier-Kampagne der Wiener Zeitung (die gerade Dutzende Kollegen rausgehaut hat). Ich verstehe, dass Medien auf Social Media sein müssen. Wir müssen dort die Welt mit Journalismus fluten, aufklären, präsent sein. Aber die neue Wiener Zeitung macht etwas anderes: Sie redet (finanziert mit Steuergeld!) jungen Leuten ein, dass Papier von gestern und die chinesische Datenkrake TikTok der Ort ist, wo der Journalismus spielt.
Wir machen eine völlig andere Erfahrung: Wir verkaufen so viele gedruckte Zeitungen wie nie zuvor - und zwar an junge Leute. Weil wir junge Leute für intelligent und neugierig halten. Weil eine editierte Zeitung auf Papier eine ganz andere Ordnung und Übersichtlichkeit bietet als ein Tik-Tok-Account, mit seinen von Algorithmen kuratierten Timelines.
Zeitungen sind Kulturgüter, ihr Design, ihre Gestaltung, ihre redaktionelle Gewichtung: all das ist Handwerk, redaktionelle Entscheidung, das hat Wert. So zu tun, als wäre das alles Boomer-Kram von gestern und sich bei jungen Leuten damit anzubiedern ist: falsch, falsch, falsch. Wir lesen ja auch noch Bücher auf Papier.
Wir machen deshalb das genaue Gegenteil der Wiener Zeitung. Wir organisieren Veranstaltungen mit Tausenden Schülerinnen und Schülern, in denen wir ihnen sowas wie "analoge Kompetenz" vermitteln. Warum ist es auch wichtig, auf Papier zu lesen? Wieso bietet das ganz andere Einblicke in Lebenswelten? Wieso erfahre ich dort ganz andere Dinge als am Smartphone? Je mehr ich mit Schüler:innen darüber rede, desto neugieriger werden sie. Und deshalb hier auch noch ein paar Zahlen, die die Wiener Zeitung in der Media Analyse finden hätte können:
FALTER 2014:
111.000 Leser:innen
(davon 26.000 zwischen 14 und 29 Jahren)
FALTER 2022;
288.000 Leser:innen
(davon 53.000 zwsichen 14 und 29)
So viel zum Märchen der "neuen" Wiener Zeitung, wonach Print für junge Leser:innen tot sei. In diesem Sinne: Nehmt Euch ein FALTER-Abo! Unterstützt unabhängigen Journalismus. Die chinesischen Eigentümer von Tik-Tok bezahlen unabhängigen Journalismus nicht.
Meinen Kommentar, warum man junge Leser:innen nicht unterfordern sollte, finden Sie hier. Ihren Zugang zu einem FALTER-Abo hier.
Liebenswerte Luftikusse
Mehr als zwei Jahre lang war der „Vogel der Woche” eine der beliebtesten Kolumnen des Newsletters FALTER.morgen. FALTER-Vogel-Wart Klaus Nüchtern hat seine eleganten ornithologischen Essays nun in dem Buch Famose Vögel versammelt. Begleitet werden die Vogelbeschreibungen von zahlreichen Illustrationen der Wiener Künstlerin Silvia Ungersböck.
Ein unerlässliches Kompendium für alle, die einen Buntspecht von einem Blumentopf unterscheiden können wollen.
Erhältlich im faltershop.at