Harald Steil

Lukas Matzinger
Versendet am 09.07.2023

Vor einer Woche war ich bei der Formel 1, aber das Kreischen 50.000 junger Frauenstimmen lässt einen die Enden des Gehörgangs noch einmal anders spüren. Der Mädchenschwarm Harry Edward Styles hat gestern im Ernst-Happel-Stadion gesungen, und der braucht für Ohnmachtsanfälle nur lieb schauen.

Bei der Vergötterung von Popbuben hat sich seit Take That und Robbie Williams (circa zu Harrys Geburt 1994) noch was getan: Das Styles-Corps lässt die Ellbögen drinnen, schaut aufeinander, tauscht Armbänder. Vor dem Stadion liegen noch die silbernen und goldenen Rettungsdecken, die die Schlangestehenden durch die vergangene Nacht gebracht haben.

Männer sind entweder als Security oder Väter anwesend. Herzerwärmend, wie einer aus Liebe zu (aber zur Scham) seiner Tochter Styles' charakteristische Federboa nicht vom Hals nimmt. Um neun kommt der Ersehnte als grünes Zottelmonster auf die Bühne und es gibt hier Getränkebecher, weil Gläser bersten würden.

Harry Styles ist ein mittelenglisches Scheidungskind, das im Schultheater eine Kirchenmaus spielte, 2010 mittels einer Castingsendung in die Bubengruppe One Direction kam, und dann mit solchen Liedern alleine den Klassenerhalt in der Stadionkonzertliga schaffte.

Die Musik ist harmlos, aber schön, wie der Mann, der sie macht. Früher haben lebensmüde Flegel mit Suchtproblemen und Bewährungsstrafen solche Massen entflammt. Harry Styles aber ist der netteste, vorbildlichste und bestimmt auch einfühlsamste aller gegenwärtigen Popsüßlinge.

Ein monogamer Pescetarier mit Tüll über dem Schmetterlingstattoo, der Brunnen in Indien sponsert und zweimal am Tag meditiert, der mit vorwiegend weiblicher Band reist und Konzerte unterbricht, damit Schwangere aufs Klo gehen können. Seine Botschaft: "Begegne den Menschen freundlich."

Die Fans folgen, haben Danksagungen oder Bittgesuche auf Schilder geschrieben, "Sitzplätze" gibt es nur auf dem Papier. Schön zu sehen, dass nicht nur Frauen auf Bühnen sexualisiert werden. Wobei, mit Harry ist das wahrscheinlich etwas anderes, sie wollen nicht unbedingt mit ihm schlafen, eher neben ihm aufwachen.

Die Verve im Praterstadion hat internationale Klasse, schon wegen der vielen Ungarn, Slowaken und Tschechen, deren nächste Großkonzertstätte das ist. Leider macht die Musikindustrie die Ergebenheit solcher Fans heute mit aberwitzigen Kartensortimenten zu Geld: "Stehplatz Innenraum" ist ganz hinten, "Front of Stage" in der Mitte des Rasens, vor der Bühne gibt es drei Premiumabteile für besonders flüssige Kunden.

Die größte Frechheit sind sogenannte "Platin-Tickets", mit denen der US-Vertriebsriese Ticketmaster im Kampf gegen den Schwarzmarkt die Fans einfach selbst ausnimmt. Sie halten stinknormale Plätze zurück, um sie nach dem Abverkauf der Restlichen viel teurer anzubieten. Aber was zahlt man nicht alles, um den Lebenswunsch des Nachwuchses zu erfüllen.

Nach dem Konzert sind die Stimmen endlich tiefer, heiser schildert man Daheimgebliebenen am Telefon die Offenbarung. Und kauft, was vom zuckerlbunten Merchandising-Stand übrig ist.

Ihr Lukas Matzinger


Fabrizio

Nichts gegen Harry Styles, aber es war ein anderer, der mich kürzlich glauben ließ, dass ich zum ersten Mal Musik höre. Der "italienische Leonard Cohen", Fabrizio de Andre, hat 1970 ein magisches Album aufgenommen, das sich nach den apokryphen Evangelien des Neuen Testaments richtet.


Formel 1

Das Schreiben eilt, weil um 16 Uhr der Formel-1-Grand-Prix von Silverstone beginnt. Lesen Sie hier, wie ich vergangene Woche beim Rennen in Spielberg auf den Beifahrersitz eines Rennwagens, zwischen High-Tech-Mechaniker bei der Arbeit und unter niederländische Bierduschen geriet.


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