Unsere realitätsferne Neutralität

Raimund Löw
Versendet am 13.07.2023

ÖVP-Chef Nehammer hat mit einer Absage an eine Koalition mit der Kickl-FPÖ überrascht. Der FPÖ-Chef sei ein Sicherheitsrisiko, weil er die Beteiligung am NATO-Luftabwehrschirm Sky Shield ablehnt, argumentiert Karl Nehammer. Die Koalitionen seiner Partei mit den Freiheitlichen in den Bundesländern lassen Zweifel an dieser Linie aufkommen. Ob das Versprechen Nehammers die ÖVP noch kümmern wird, wenn es um Machterhalt geht, darf bezweifelt werden.

Aber die Freiheitlichen haben mit ihrem Nein zu Sky Shield eine Flanke aufgemacht und die ÖVP reagiert. Nehammer war schon lange nicht so klar wie gestern bei Armin Wolf in der ZiB 2. Hat er seine Rolle als Kanzler gefunden? Die SPÖ lässt in dieser zentralen Frage aus, weil sie sicherheitspolitisch selbst schlingert.

Der innenpolitische Schachzug steht im Rahmen einer europaweiten Auseinandersetzung bei den Neutralen. Auf dem Kriegspfad gegen ESSI, die European Sky Shield Initiative, sind die Rechtsextremen auch in der Schweiz. Die Schweizer Volkspartei und die Freiheitlichen in Österreich erklären sich zu Heiligen Kriegern der immerwährenden Neutralität.

Ob SVP und FPÖ ihre Ablehnung europäischer Luftraumverteidigung lange durchhalten werden, ist genauso fraglich. Kleinstaaten können russische Drohnen oder Cruise Missiles im Ernstfall nicht solo abfangen. Tote und Verletzte in ukrainischen Wohnhäusern oder Pizzerias bestätigen, wie wichtig militärische Abwehrmöglichkeiten geworden sind.

Aber ein Punkt lässt sich nicht wegdiskutieren: Mit der immerwährenden Neutralität, wie sie bisher verstanden wurde, ist die Allianz zur Luftabwehr im Rahmen der NATO nicht vereinbar.

Der ehemalige ÖVP-Staatssekretär im Außenministerium, Hans Winkler, hat kürzlich mit einem ironischen Tweet den Nagel auf den Kopf getroffen: "Ö hat eine einfache und perfekte Sicherheitsstrategie", schreibt Winkler, "Wenn andere angegriffen werden, müssen wir wegen der N(eutralität) nichts tun. Im Falle der Bedrohung von Ö gilt die Beistandsverpflichtung der EU und moralisch der NATO. Einfach, oder?"

Groteske Unehrlichkeit, schreibt der deutsche Journalist Oliver Das Gupta. Die Masche ist nicht mehr aufrecht zu erhalten, wenn die Sicherheit Europas bröckelt. Die Wandlung Russlands zu einem faschistoiden Staat, der die Errungenschaften der demokratischen Revolutionen von 1989 rückgängig machen will, zwingt uns zum Umdenken.

Für die westliche Linke war die NATO lange ein rotes Tuch. Das von den USA angeführte Bündnis hat gegen die eurokommunistische KP in Italien intrigiert und den rechten Obristenputsch in Griechenland 1967 unterstützt. Gegen die NATO-Nachrüstung haben in den 1980er-Jahren Hunderttausende demonstriert.

Hinter der Verteufelung der NATO ist zweifelsohne eine Verharmlosung des sowjetischen Imperiums gestanden. Dreißig, vierzig Jahre später ist die Situation sonnenklar. Die NATO garantiert die Sicherheit Europas. NATO-Gegner sind Donald Trump in den USA und Vladimir Putin in Moskau.

Österreich erkennt dort, wo es uns wichtig ist, die stabilisierende Rolle des Nordatlantikpaktes längst an. Ohne viel Aufsehen ist das österreichische Bundesheer im Kosovo in der NATO-Friedenstruppe KFOR aktiv. Die Teilnahme an einem Militärbündnis zur Verteidigung des Luftraums wie Sky Shield kann man, wenn man muss, mit dem Buchstaben des Neutralitätsgesetzes in Einklang bringen. Aber auf die Dauer verlieren solche Drehungen ihre Glaubwürdigkeit.

Die neue Außenpolitiksprecherin der SPÖ, Petra Bayr, sagt, sie will der Aushöhlung der Neutralität entgegentreten. Zu hoffen ist, dass sie damit weder Sky Shield noch andere Bereiche der Zusammenarbeit mit der NATO meint. Aber was bleibt sonst, wenn man nicht die demagogischen FPÖ-Alleingangsfantasien übernehmen will?

Wir brauchen in Österreich dringend eine ernsthafte Diskussion über die sicherheitspolitische Situation in Europa, die Rolle unseres Landes und die Überwindung der realitätsfernen Neutralität, meint,

Ihr Raimund Löw


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