Nehammer und Kindergeburtstage bei McDonald’s - FALTER.maily #1202
Diesen Sommer las ich im Urlaub "Jahre mit Martha" von Martin Kordic. Etwa in der Mitte des Buches erinnert sich die Romanfigur Zeljko, ...
Ein Gastgarten, wie er sein sollte: Die Gösser Bierinsel im Prater (im Mai 2021) (Foto: Klaus Nüchtern)
Ich zähle nicht zu jenen Menschen, die im Urlaub Aufregung und Abenteuer suchen. Wenn ich verreise, dann vorzugsweise an Orte, wo man fußläufig an einen anständigen Negroni, Cosmopolitan oder – ein neuer Favorit – Last Word kommt. Ich bin zwar schon auch naturaffin, aber meine Frau ist auf dem Land aufgewachsen und besteht auf Destinationen mit einer sechsstelligen Anzahl von Einwohnern. Ab und zu darf ich in die Highlands, ins Wye-Tal oder ins Waldviertel.
Im Urlaub frühstücke ich öfter und besuche mehr Kirchen und Museen, mache ansonsten aber das gleiche wie sonst. Nach zehn Tagen ist es dann auch wieder gut, und ich freue mich wieder auf daheim. Ich lebe sehr gerne in Wien, habe allerdings zusehends das Gefühl, dass diese Beziehung auf einer affektiven Asymmetrie zu meinen Ungunsten basiert. Mir scheint, dass meine Bedürfnisse und Vorlieben der Stadt selbst zusehends wurscht sind. Das liegt unter anderem daran, dass ich kein Autofahrer bin. Wäre ich einer, würde Wien nach meiner Pfeife tanzen (dazu in meinem nächsten Maily mehr). Ich bin allerdings Fußgänger, Radler und Wirtshaushocker und werde vor allem in der letztgenannten Passion systematisch enttäuscht und verhöhnt.
Mag sein, dass ich Angehöriger einer zum Aussterben verurteilten Spezies bin. Einiges spricht dafür. Über Wochen habe ich im Rahmen der Redaktionskonferenz auf das im Gange befindliche Wirtshaussterben hingewiesen und die entsprechenden Reportagen und Recherchen angeregt. Vergebens. Also habe ich beschlossen, dieses Medium zu nutzen, um meiner Wut und Trauer in einem epischen Lamento Ausdruck zu verleihen, in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu erreichen, Herzen zu erweichen, die Schuldigen anzuprangern und jene Verwirrten vor der ewigen Verdammnis zu erretten, die geneigt sind, sich der Todsünde der Acedia zu überlassen.
Um nicht selbst der Schwester Superbia anheimzufallen, gestehe ich gerne ein, dass auch ich nicht ohne Sünde bin. Als ich ich vor etwa zwei Jahrzehnten von Meidling in die Leopoldstadt übersiedelte, zählte ich nicht eben zur Speerspitze der Gentrifizierung, aber ich war Teil des Trosses. Typen wie ich sind schuld an den Dachbodenausbauten, an explodierenden Wohnungs- und Brotpreisen, an der Foodpornofizierung der Gesellschaft.
Ich habe das alles nicht gewollt, ich habe es nicht einmal betrieben, aber ich habe es auch nicht verhindert. Als ich in mein Grätzl zog, gab es – zweimal Umfallen von meiner Haustür entfernt – ein sehr brauchbares Wirtshaus. Die Küche hatte nichts zu bieten, worauf man Gedichte mit komplexen Reimschemata hätte verfassen müssen, aber es gab fünf Biersorten vom Fass und einen netten Schanigarten, in dem auch Menschen mit Beinträchtigungen aus der ums Eck gelegenen Tageswerkstätte abhingen.
Kaum war ich eingezogen, musste der „Platzwirt", wie das Lokal damals hieß, einem überteuerten Restaurant weichen, in dem ich – zu meiner Verteidigung sei’s gesagt – vielleicht zwei- oder dreimal gewesen bin. Irgendein semiangesagter Pinselschwinger hatte sich an der Decke verwirklicht, schon fielen die Bobos aus sämtlichen Innergürtelbezirken ein und bald auch die Kamerateams, um dort Folgen einer stark überschätzten TV-Serie abzudrehen.
Als Wien unlängst von einer wirtschaftsliberalen Wochenzeitung wieder einmal zur „lebenswertesten Stadt der Welt" gekürt wurde, habe ich mich schon gefragt: „auf was hinauf eigentlich?" Und: „für wen?" Die Wiener Innenstadt etwa ist die meiste Zeit des Jahres zu Tode touristifiziert und wird dank des „Goldenen Quartiers", das der saubere Herr Benko, dieser King Midas in Reverse, dort hineingesetzt hat, immer noch ein bisschen unsympathischer, als sie ohnedies schon ist. Erst unlängst eröffnete unweit der Falter-Redaktion eine Ausgehlocation für Reich-und-Schön-Darsteller:innen, bei dem ich mir denke: Wenn man da jetzt ung'schauter Watsch’n austeilt – viel Falsche erwischert's ned.
Umgekehrt gibt es in der ganzen Innenstadt – sieht man vom Reinthaler und vom Holunderstrauch ab – kaum noch Gaststätten, die dem, was man einmal einen „Wirt’n" nannte, entsprechen würden. Besonders widerwärtig ist die Bobofizierung der bodenständigen Küche. Unlängst war ich am Meidlinger Markt in einer „Wirtschaft", in der eine Degustationsportion von Grammelknöderln an einem Hauch von Kraut um € 14,50 angeboten wurde. Leider habe ich die Angewohnheit, Preise hin und wieder in alte Währung umzurechnen: Das sind über 200 Schilling!
Und nun – ich habe ein „episches Lamento" in Aussicht gestellt und halte mein Versprechen! – zu meiner eigentlichen Klage. In den Nullerjahren haben mein damaliger Kollege und immer noch Freund Wolfgang Kralicek und ich den „Grand Slam des Gastgartens" etabliert. Keine der vier Gaststätten, die wir damals für diesen nominiert hatten, kommt heute dafür noch in Frage: Zwei davon wurden durch Ein- und Umbauten und/oder raubritterhaftes kulinarisches „Upgrading" kaputtmodernisiert, und die letzten beiden haben „vorübergehend geschlossen".
Von einem Gastgarten verlange ich: Kies, Bäume und umsichtiges, gerne auch charakterstarkes Personal – gemütlich bin ich selber. Keinesfalls möchte ich in einem Gastgarten beschallt werden und ebensowenig möchte ich mich von etwaiger meteorologischer Unbill durch einen dieser Monsterschirme beschützt wissen, die – vergleichbar dem Spritzbrunnenaufdreher von Karl Valentin – zu Saisonbeginn aufgeklappt und zum Saisonende wieder zugemacht werden.
Um den Bierstadl im Böhmischen Prater mache ich mir seit vielen Jahren Sorgen. Die hohe Personalfluktuation verhieß nichts Gutes, schließlich machten Gerüchte die Runde, das Lokal solle verkauft werden. Als der Besitzer dann daran ging, durchaus fragwürdige Veränderungen vorzunehmen – der Kies wurde durch Waschbetonplatten er-, eine bizarre Anubis-Statue in den Garten gesetzt –, gab das zumindest Anlass, Erhaltungshoffnungen zu hegen. Diese erfüllten sich freilich nicht, und das Lokal blieb heuer geschlossen. Dieser Tage erst wurde bekannt, dass der Bierstadl neu übernommen, im September wieder aufgesperrt wird und im nächsten Jahr in „ein modernes Bierlokal" verwandelt werden soll. Ob das eine gute Nachricht ist, wage ich zu bezweifeln. Meiner Meinung nach hat Craftbeer im Böhmischen Prater nichts verloren.
Um die Gösser Bierinsel hätte ich mir keine Sorgen gemacht. Die grundleiwande Gaststätte hinterm Lusthaus mit dem idealtypischen Gastgarten war eigentlich immer gut besucht und unterschied sich wohltuend von den hochfrequentierten Bier- und Stelzenausgabestellen des Praters. Vom Personal, über das Bier- und Speiseangebot bis zu den Preisen und der Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel (77A) hat auf 48°11'27.2" nördlicher Breite und 16°26'22.2" östlicher Länge hat eigentlich alles gepasst. Die Kosten für den Umbau der Innenräume und die mit der Pandemie einhergehenden Umsatzverluste trieben das Lokal allerdings in die Insolvenz und haben auch in diesem Fall dazu geführt, dass es im heurigen Jahr nicht mehr aufsperrte.
In den beiden letztgenannten Fällen trifft mich keine Schuld. Ich darf wirklich sagen, dass ich getan habe, was ich konnte. Es hat aber leider nicht gereicht. Ohnmacht macht traurig und wütend. An welche Adresse aber wende ich mich, wo deponiere ich meine Wut? Gegen den Scheißkapitalismus kann man auf jeden Fall schon mal wettern. Alles wird „dem Markt" überlassen, außer die Banken gehen krachen, dann müssen die natürlich von der öffentlichen Hand saniert werden.
Ich fordere eine Form von Konsumkommunismus! Von der angeblich „lebenswertesten Stadt der Welt" darf man wohl erwarten, dass sie die Somatik und Wohlfühlbedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten berücksichtigt, und Wien nicht zu einem Gaudi-Areal für Bobos und Oligarchen verkommt. Der Genosse Bürgermeister soll gefälligst umgehend tätig werden, sonst kleb ich mich auf dem Rathausplatz an, bevor der wieder mit der besch***enen Adventsarchitektur zugestellt wird!
Ihr Klaus Nüchtern
Alles, was mein Freund und Kollege Gerhard Stöger über mich geschrieben hat, stimmt. Pointentechnisch völlig richtig hat er die Gegensätze etwas überakzentuiert und das Verbindende heruntergespielt (wir können uns auch auf Robert Wyatt, die Beatles und Negronis einigen), und nur in einem geirrt: Nicht zuletzt aus Kinoaboamortisierungsdruck habe ich „Barbie" dann doch gesehen. Ich habe mir nichts erwartet, war aber dennoch unterwältigt. Aber weil das ohnedies schon hinreichend erörtert wurde – zuletzt im sonntäglichen Maily von Christina Vettorazzi – muss ich das nicht ausführen und darf mich darauf beschränken, der ebenso pointierten wie triftigen Kritik von Johanna Adorján vollinhaltlich zuzustimmen. Feminism, my ass!
Vor mehr als einem halben Jahrhundert war „Pink" im Kino schon mal angesagt. „Pink Flamingos" von John Waters, dem Großwesir des schlechten Geschmacks, mit Drag Queen Devine in der Hautprolle, war allerdings kein Blockbuster für die ganze Familie, sondern ein Skandal, und gilt heute als Klassiker des queeren Films.
Nicht einmal die Royal Society for the Preservation of Birds (RSPB) hat dem „Barbie"-Hype widerstehen können und präsentierte die zehn pinkesten Vögel. Die ersten drei davon finden sich übrigens auch in meinem Buch „Famose Vögel". Einen Rosenstar hingegen habe ich leider noch nicht gesichtet.
Der berühmteste Flamingo-Song ist wohl Manfred Manns „Pretty Flamingo" von 1966. Flamingos habe ich tatsächlich schon in Natura gesehen und zwar in einer aufgelassenen Saline bei Ulcinj, Montenegro. Nicht ganz so bekannte Musikstücke, die diesen Vögeln von bizarrer Eleganz gewidmet sind, findet man auf dem Album „Out of the Cool" (1961) des Bandleaders und Arrangeurs Gil Evans (das Posaunen-Solo auf „Where Flamingos Fly" spielt Jimmy Knepper) und auf „Papito" (2017), wo Erika Stucky den wunderbaren Song „Flamingo Town" zum Besten gibt.
Die Farbe der „Pink Lady" verdankt sich der Zutat Grenadine, beim bereits erwähnten Cosmopolitan ist es der Cranberrysaft, der für einen ähnlichen Effekt sorgt. Ich bevorzuge ihn in der Variante Very British Cosmopolitan – also mit Gin statt mit Wodka.
Der neue FALTER ist da. Der Süden Österreichs steht unter Wasser, deshalb stellen wir am Cover die Frage: Sind wir schuld? Unsere Redaktion liefert Reportagen und Antworten zur Umweltkatastrophe. Katharina Kropshofer erklärt, wie es soweit kommen konnte. Armin Thurnher liefert einen persönlichen Bericht über seine Frau, die nur Verwandte besuchen wollte. Und Wolfgang Rössler schreibt über das Barockstift St. Paul, das ins Rutschen gerät.
Was ist sonst in den Ressorts so los? Josef Redl schreibt über bisher billige Wohnbaukredite, Andrea Gutschi über die Österreichische Agentur für Entwicklungszusammenarbeit (genannt: das "geheime Reisebüro"), die regelmäßig Pressereisen finanziert. Eva Konzett schreibt in einem Essay über KI und die Angst vor der digitalen Apokalypse. Und Lukas Matzinger schreibt eine Hommage an das Tagada - sagen Sie niemals Karussel zu ihm!
Kunsttipps für den Österreich-Urlaub liefert die Titelgeschichte unserer Kultur- und Programmbeilage: In einem kundigen Überblick stellt Nicole Scheyerer sehenswerte Ausstellungen vor, von Krems über Graz, Linz und Salzburg bis Innsbruck und Bregenz. Gerhard Stöger hat Empfehlungen zu vier ganz unterschiedlichen Musikfestivals, und die Fotostrecke „Leuchtkasten“ bietet Impressionen eines Wiener Regentags. Dazu, wie immer, massenhaft Veranstaltungstermine, kundig kommentiert und durch Rezensionen ergänzt.