Warum ich kaum Zeitung lese

Über den Verfall der Sprache im österreichischen Journalismus

Lukas Matzinger
Versendet am 10.08.2023

Heute habe ich's wieder versucht und österreichische Tageszeitungen gelesen. Entweder ist mein Textverständnis unter aller Kanone oder unsere Branche hat über die Jahre eine Sprache kultiviert, die sonst aus guten Gründen nirgendwo vorkommt. Zeitung lesen gibt mir immer das Gefühl einer Fremdsprachenprüfung im B1-Level: Ich weiß ungefähr, was gemeint ist, genau wiedergeben könnte ich es nachher aber nicht.

Das liegt nicht einmal an den ewigen Floskeln. In den Ausgaben von heute zeigen Bundesländer "klare Kante", obwohl die Energiewende "auf Hochtouren" läuft. Vereinsfunktionäre "drücken die Schulbank", wobei Kosten "aus dem Ruder laufen". Politiker "bitten zur Kasse" oder "drehen an Stellschrauben", außer Recep Tayyip Erdoğan, der sitzt nämlich "fester denn je im Sattel".

Selbst die gewaltvoll zusammengelöteten Hauptwörter, deren hundertfache Wiederholung kein Existenzgrund ist (Umfrage-Hoch, Liga-Hit, Top-Adresse, Viertelfinal-Ticket, ...), ließen sich noch als Folklore abtun. Dass mir die Zeitungssprache so wenig sagt, hat andere Gründe.

Um sich unangreifbar zu machen, hüllen sich Politiker, Beamte und Betriebswirtschafter in ein sperriges Technokratendeutsch, das in wesenlosen Wörtern wenig Konkretes preisgeben soll. Mit "-ung"-, Fach- und Fremdwörtern abstrahieren sie, bis sich keiner mehr angeredet (womöglich angegriffen) fühlt. Journalisten könnten die Camouflagegebärde für den Leser enttarnen: Was heißt das nun für wen? Doch jene Nichtsprache bekam schon vor Jahren die ständige Aufenthaltserlaubnis in den Politikressorts. Zwei Beispiele von heute:

Die gesetzliche Pflicht ist das eine – das andere, dass Bildungslandesrätin Cornelia Hagele (VP) die kommunalen Prognosezahlen weit dringender für eine andere Aufgabe benötigen würde: nämlich die Umsetzung des im Regierungspakt zwischen Schwarz-Rot vereinbarten Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung.

Mit der gescheiterten Sanierung der Muttergesellschaft und den sich abzeichnenden Prozessen droht laut Schumacher möglicherweise dem Gemeindeverband die Insolvenz, sofern die Gemeinden nicht bereit sein sollten, durch Anhebung der Mitgliedsbeiträge die finanzielle Ausstattung des Verbands deutlich zu verbessern.

Zweimal gelesen, nichts begriffen, weitergeblättert.

Leider übersteigen auch die als lebensnahe erhofften Chronikseiten meinen Intellekt. Das ehrbare Muster "Subjekt, Prädikat, Objekt" hat den Vorzug dichter Information in verständlichen Sätzen. Wer macht was? Die Personalisierung ist noch dazu Geschmacksträger: Wenn Leser wissen, wer etwas tut, können sie sich einfühlen, Bilder im Kopf entstehen. Das Passiv hingegen entmenschlicht, und das Erzählen ohne Subjekte erreicht mich nicht:

In der Nacht auf Mittwoch wurde schon wieder ein Obdachloser mit einem Messer schwer verletzt. Das Opfer wurde am Straßenrand am Hernalser Gürtel gefunden. Der Mann musste nach einer Erstversorgung sofort mit der Berufsrettung ins Spital gebracht werden. Im Krankenhaus konnten mehrere Stich- und Schnittverletzungen an dessen Körper festgestellt werden.

Im Erdgeschoss müssen alle Böden und teilweise auch die Einrichtung herausgerissen werden. Danach werden Böden aufgebohrt und Wände aufgeschnitten, um sie trockenzulegen.

Nie tut wer etwas, immer wird nur getan, kein Wunder, wie dieses Land beinand' ist. Da werd ich schon beim Lesen ganz passiv – vielleicht will ich diese Fremdsprache gar nicht lernen.

Ihr Lukas Matzinger


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