Vom Striezel zur Katastrophe und zurück - FALTER.maily #1198
Ich habe mir angewöhnt, meine Sonntage mit einem selbstgemachtem Striezel zu begrüßen.Nicht schlecht für den ersten Satz eines ...
Leidet wie die meisten Metropolen unter Luftverschmutzung: London (Foto: Alexander London | Unsplash)
Gerade komme ich aus Europa auf die Brexitinsel zurück, was sehen da meine erholten Augen? Neue Schilder an der Einfahrt nach London. "ULEZ Emission Zone" steht drauf. Und eine Kamera ist auch abgebildet. TFL – Transport for London – warnt uns: Mit Ende August ist die Ultra Low Emission Zone auf ganz London ausgeweitet worden. Alte Autos, die die Luft verschmutzen, zahlen ab jetzt 12,50 Pfund (14,50 Euro) pro Tag, wenn sie in die britische Hauptstadt einfahren.
Mehr hat der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, nicht gebraucht. Die neuen Kameras werden von Vandalen attackiert, die sich "Blade Runners" nennen. 288 Verkehrskameras wurden in den Monaten von April bis August beschädigt oder geklaut. Die Londoner schimpfen hörbar. "Ich bin Pensionist, ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, ich lebe von 186 Pfund (215 Euro) Pension pro Woche", empört sich ein Mann, der mit der Polizei bei einer Demo vor der Downing Street mit der Polizei rangelt. Er könne sich kein neues Auto leisten. Und somit sei es jetzt vorbei damit, dass er mit dem Auto in die eigene Hauptstadt fahren kann. Die "Daily Mail" schreibt genüsslich: "Sadiq Khans ULEZ-Regelung ist verhasst."
Der Labour-Bürgermeister bekommt aber nicht nur Saures von Autofahrern, die ihre umweltverschmutzenden Kisten nicht verschrotten wollen – und sich keine neuen leisten können. Auch die eigene Parteiführung unter Keir Starmer will Khans Umweltpolitik nicht. Denn im Juni schaffte die Labour-Party es nicht, den ehemaligen Wahlkreis von Boris Johnson – Uxbridge am Rande von London – rot einzufärben. Der Labour-Kandidat verlor die Nachwahlen. Der konservative Kandidat hatte Wahlkampf gegen die Ausweitung der ULEZ-Zone gemacht. Das Auto ist, wen wundert’s, auch in England Teil des Kulturkampfes geworden.
Sadiq Khan hat seine Pläne seitdem zwar ein bisschen angepasst, aber er hat sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Denn: London hat neun Millionen Einwohner. Für 4000 vorzeitige Tode wird die Luftverschmutzung in der Hauptstadt verantwortlich gemacht. Die ULEZ-Zone für die Innenstadt, die bereits 2019 eingeführt wurde, hat nach einer Studie der städtischen Verkehrsbehörde gute Ergebnisse gebracht: Die wichtigsten Luftschadstoffe seien um die Hälfte reduziert worden. Auch die Congestion Zone, die ursprünglich eingeführt worden war, um Verkehrsstaus zu verringern, ist inzwischen ein Erfolg grüner Stadtpolitik. Tagsüber kostet es für PKWs 12,50 Pfund, in die Londoner Innenstadt zu fahren (außer für elektrische Autos, die sind derzeit noch ausgenommen.) Der Luftqualität war diese Maßnahme, die gerade 20 Jahre alt geworden ist, äußerst zuträglich. Wussten Sie, dass die erste Stadt der Welt, in der so eine City-Maut eingeführt wurde, Singapur im Jahre 1975 war?
Ja, ich weiß, ich habe es leicht, grüne Stadtpolitik zu unterstützen – ich fahre in London mit dem Fahrrad, der Tube oder mit dem E-Auto zu Terminen. Es gibt aber viele, die auf ihre alten Autos angewiesen sind. Die BBC interviewte eine Pflegerin, die sieben Menschen pro Vormittag mit Frühstück oder Mittagessen versorgt. Ohne ihr Auto schafft sie das nicht.
Aber erstens: Es müssen ja nur jene Autos Strafe zahlen, die vor 2005 zugelassen wurden. Neun von zehn Autos sind jetzt schon ULEZ-konform. Zweitens: Khan hat eine Abwrackprämie ausgelobt – wer sein Auto verschrottet, bekommt einen Scheck über 2000 Pfund in der Post. Um dieses Geld findet man bereits passable Gebrauchtwagen. Drittens: Wir können Leben retten, wenn wir die Luft in der Megametropole weniger verschmutzen. Zwischen acht und zwölf Kinder mit Asthma sterben pro Jahr in London.
Ella Kissi-Debrah ist das erste Kind in Großbritannien, das laut Todesurkunde an Luftverschmutzung gestorben ist. Das Mädchen war Londonerin und starb 2013 im Alter von neun Jahren an akutem Asthma, das durch die Abgase, die sie einatmen musste, verstärkt worden war. Ihre Mutter Rosamund hat in den letzten zehn Jahren unermüdlich für ein Gesetz gekämpft, das das Recht verbrieft, frische Luft zu atmen. Diese Clean Air (Human Rights) Bill heißt bei den Aktivist:innen Ellas Law. Im House of Lords wurde Ellas Gesetz schon beschlossen, im Unterhaus hängt es seit März 2023 in der zweiten Lesung fest. Die konservative Regierung unter Rishi Sunak verweigert die Zustimmung.
Vielleicht könnten die "Blade Runners" auf den Regierungsbänken und Straßenkreuzungen mal kurz die Luft anhalten? Sich vielleicht mal statt Kameras zerstören und Gesetze blockieren, mit den Fakten beschäftigen? Dann wäre viel gewonnen. "Es gibt ein Recht auf saubere Luft", sagt der Bürgermeister von London. Da hat er recht, findet
Ihre Tessa Szyszkowitz
Über grüne Politik und wie wir die Klimawende schaffen können, haben meine Kolleginnen Katharina Kropshofer und Barbara Tóth gestern im FALTER-Sommergespräch im Museumsquartier gesprochen. Sie können es hier nachhören.
Über Kameras – nicht die, die im Verkehr, eingesetzt werden, sondern die, die im Gerichtssaal Donald Trumps Prozesse übertragen könnten, habe ich diese Woche hier geschrieben.
Über die "Blade Runner", wie sich die Londoner Protestler nennen, die Verkehrskameras aus Protest gegen die grüne Politik des Bürgermeisters zerstören, kam ich wieder mal auf den Kultfilm von Ridley Scott aus dem Jahre 1982. Das ist zwar harter, dystopischer Stoff, aber eben auch guter Cyberpunk. Harrison Ford als Blade Runner besticht. Vor allem im Vergleich mit den eher lahmen und einfallslosen Londoner Vandalen. Sie können den Film beispielsweise auf Apple TV ansehen und auch die Wiener Programmkinos bringen den Klassiker immer wieder auf die Leinwand. Infos über Sondervorführungen und Neuerscheinungen finden Sie im FALTER-Kinonewsletter.
Am Montag, den 04. September, findet im Wiener Rathaus die Präsentation des Buches "Karl Seitz. Bürgermeister des Roten Wien" (Falter Verlag) statt. Mit dabei: Der Autor Alexander Spritzendorfer, Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) sowie FALTER-Geschäftsführer Siegmar Schlager.
Am Montag, 4. September 2023, 18 Uhr, Stadtsenatssitzungssaal
1., Friedrich-Schmidt-Platz 1 (Eingang über Lichtenfelsgasse 2)
Der Eintritt ist frei, um Anmeldung unter diesem Link wird gebeten.
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