Nehammer und Kindergeburtstage bei McDonald’s - FALTER.maily #1202
Diesen Sommer las ich im Urlaub "Jahre mit Martha" von Martin Kordic. Etwa in der Mitte des Buches erinnert sich die Romanfigur Zeljko, ...
Der Pfeil weist den Weg. Anreise per Rad oder Bus wird empfohlen (Klaus Nüchtern)
Sollte Ihnen der Allterweltsname Christian Cooper nichts sagen, dann liegt das möglicherweise daran, dass Sie weder Marvel-Comic-Fan noch Birdwatcher sind. Und falls Sie tatsächlich beides nicht die Bohne interessiert, dürfen Sie trotzdem ruhig weiterlesen, denn es wird in diesem Maily nicht um Superheld:innen und allenfalls ein bisschen ums Birdwatchen gehen. Und apropos "gehen" – genau das soll das Thema des heutigen Mailys sein, das einen Ausflug in den Central Park, New York und zum Friedhof der Namenlosen unternimmt.
Aber zurück zu Christian Cooper. Der hat, noch bevor er gehen konnte, an antirassistischen Protestmärschen teilgenommen. Seine Mutter hat ihn und seine Schwester einfach im Kinderwagen mitgeschoben. 1992 dann sorgte der Mann mit Harvard-Abschluss als Redakteur und Autor im Verlagshaus Marvel in der Ausgabe #106 der Comic-Serie "Alpha Flight" für das Coming Out von Northstar und damit für den ersten offen schwulen Superhelden. Die Chefetage von Marvel war not amused.
Schwarz, schwul, Comic-Fan und Birder: Christian Cooper hat sich das Kofferwort "Blerd" (Black + nerd), das er als Selbstbezeichnung verwendet, redlich verdient. Dass er im Mai 2020 am helllichten Tag im Central Park in New York Objekt eines bizarren rassistischen Übergriffs wurde, liegt freilich allein an seiner Hautfarbe. Eine weiße Frau – sie trägt übrigens denselben Familiennamen – mit Hund fühlte sich "von einem afro-amerikanischen Mann an Leib und Leben bedroht" und verständigte daraufhin per Smartphone die Cops – die das Richtige taten und fernblieben.
Was war das Vergehen von Christian Cooper? Er hatte in einem Waldstück, das als The Ramble bekannt und unter Birdwatchern aus naheliegenden Gründen sehr beliebt ist, nach Vögeln Ausschau gehalten und die Frau gebeten, ihren Hund an die Leine zu nehmen (wie es auch ihre Pflicht gewesen wäre). Christian Coopers Video des Vorfalls "ging viral", wie man so sagt, und verhalf ihm zu einem Ruhm und einer Aufmerksamkeit, die er so ganz gewiss nie hatte lukrieren wollen – sowie zu der National Geographic-Serie "Extraordinary Birder".
Wien hat den Prater und eine Reihe mehr oder weniger aparter Parks, aber keinen Central Park, der als Schauplatz aus Aberdutzenden Filmen bekannt ist, etwa in der Eröffnungssequenz von Woody Allens "Manhattan", aber auch – um musikalisch von Gershwin zu Galt MacDermot zu wechseln – in Miloš Formans Verfilmung von "Hair" und einer üppig choreografierten Version von "Aquarius" (inklusive Pferde-Pas-de-deux!). Was es über Wien sagt, dass die ikonische Film-Szene der Stadt nicht in einem Park, sondern einem Abwasserkanal spielt, sei dahingestellt.
Aber natürlich wurde auch das Riesenrad als Wien-Wahrzeichen kinematografisch genutzt, nicht nur im "Third Man", sondern auch Richard Linklaters nicht durchgängig kitschresistentem "Before Sunrise" von 1995 – übrigens mit mir in einer zwei Sekunden langen Statistenrolle in der schlimmen Wahrsager-Szene vor dem Kleinen Café: der junge Mann mit Krawatte 1:04–1:06. Das Erstaunlichste an "Before Sunrise" ist, wie die beiden Protagonisten, Celine (Julie Delpy) und Jesse (Ethan Hawke), vom Riesenrad im Morgengrauen zum Friedhof der Namenlosen gelangen. Ich meine: Das ist nicht gerade ein Sightseeing Walk, sondern ein ziemlich breiter Weg, gut zehn Kilometer, und die beiden Backpacker werden kaum ein Taxi gerufen und als Destination den "cemetery of the nameless" angegeben haben. Die Anreise mit den Öffis – noch dazu in der Prä-Smartphone-Ära – trau ich den beiden verliebten Pfeifen erst recht nicht zu.
Mir schon. Man fährt mit der U2 bis Donaumarina, wechselt dort in den 79A, der die Aussichtsstraße durch den Freudenauer Hafen nimmt, an dem deprimierenden Kasten der ehemaligen k.k. Kaserne in der Zinnergasse vorbeifährt, die seit 1956 als Flüchtlingsunterkunft dient, und steigt schließlich am Artellerieplatz in den 76B um, der einen schlussendlich zum Alberner Hafen bringt. Das dauert immerhin eine Stunde. An der Busendhaltestelle wird man zwischen Molo- und Gottfried-Schenker Straße (letzterer ein aus der Schweiz gebürtiger Donauschifffahrtsspediteur) auch gleich auf einen Trampelpfad eingewiesen, der zwischen Betonmauer und Maschendrahtzaun schnurgerade auf den Friedhof zuführt. Von der benachbarten Entrindungsanstalt zieht Mulchduft herüber, bei jedem Schritt stieben Heuschrecken auf und zeigen im Flug ihre orangeroten Flügel. Der Entomologe meines Vertrauens, Peter Iwaniewicz, tippt auf die Gefleckte Schnarrschnecke, und ich tue das daher auch.
Seinen Namen trägt der seit 1940 stillgelegte Friedhof der Namenlosen, auf dem angeschwemmte Tote bestattet wurden, nicht ganz zu Recht. Einige der Kreuze sind mit Namen versehen, das Grab eines 1904 ertrunkenen 11-Jährigen wird als Stofftierabwurfstelle genutzt. An der vom Holzmeister-Schüler Karl Franz Eder in den 1930ern errichteten Auferstehungskapelle lehnen einige munizipale Bezahlfahrräder, was die Befürchtungen des FaWaWa bestätigt, der diese Wanderung eigentlich wider besseres Wissen – fuck Richard Linklater! – angetreten hat: vom Alberner Hafen zum Riesenrad ist eindeutig eine Fahrraderfahrer- und keine Fußgängerstrecke! Außerdem ist es die falsche Tages- und Jahreszeit. Am frühen Vormittag in der Nachtigall-, Kuckucks- und Pirolperiode mag das noch angehen, aber an diesem heißen Spätsommernachmittag, an dem sich die Sonne, die gelbe Sau, ganz schön aufspielt und mächtig reinknallt, ist das kompletter Schwachsinn!
Immerhin gibt es neben der Ortstafel die Hafenkneipe – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen angehipsterten Hangout am Donaukanal – und damit Gelegenheit zum Getränkeerwerb für den zähen Weg zurück. Der führt über die Donaukanal und Praterspitz überspannende Freudenauer Hafenbrücke, vorbei an der lustigen Anlage von Wopfinger Transportbeton zur Freudenauer Hafenstraße, die man definitiv besser per Bus bewältigt. So reizvoll es ist, schlage ich das kulinarische Angebot (Hüherkebab) der Raststätte Donauweibchen aus und will nur noch Meter machen, vorbei an Kraftwerken, Windrädern, Pagoden und den ewigen bärtigen +50-Helmradlern in ihren hässlichen "eierquetschenden Lycrahosen" (Richard Ford).
Ich habe die Schnauze voll, das Riesenrad, die blöde Tourischleuder, kann mir gestohlen bleiben, ich will eine Bushaltestelle. Ich nehme die Bushaltestelle Grünhaufenbrücke. Jemand hat dort zwei Felsbrocken hingewuchtet, auf einen davon setze ich mich und warte auf den Bus, und, hey, da sind noch zwei andere Menschen, die das ebenfalls tun, und das finde ich tröstlich, auch wenn ich mich frage, was genau im Leben von jemandem abgeht, der an der Haltestelle Grünhaufenbrücke auf den Bus warten muss.
Was mein Leben anbelangt, kann ich festhalten, dass ich nie wieder vom Alberner Hafen zur Bushaltestelle Grünhaufenbrücke latschen und ab nächsten Mittwoch im FALTER.morgen jede Woche einen Stadtrandgang vorstellen werden, den zu gehen es sich auch tatsächlich lohnt. Versprochen!
Ihr Klaus Nüchtern
Der Titel dieses Mailys ist natürlich eine paraphrasierende Reverenz vor Nancy Sinatras unkaputtbarem Song "These Boots are Made for Walkin’", in dem es aber gar nicht ums Gehen, sondern um eine toxische Beziehung geht. Der FaWaWa hat auch Stiefel in seinem Fußpark, verwendet für den Stadtrandverkehr aber in der Regel Schuhe, im Sommer auch Sandalen. Die oben beschriebene Wanderung wurde mit Tatacoa Birko-Flor Futura Khaki beschritten und bestritten. Die Firma Birkenstock, die sich zuletzt als unfähig erwiesen hat, mir das Paket mit dem georderten Schuhwerk zuzustellen, könnte diesen peinlichen Lapsus dadurch kompensieren, dass sie mir einen lukrativen Exklusiv-Vertrag anbietet und die Stadtrandgang-Kolumne mit Bannerwerbung versieht.
Chris Coopers Autobiografie ist unter dem Titel "Better Living Through Birding" erschienen. Sie beginnt mit dem beschriebenen "Incident in Central Park", enthält aber auch nutzvolle Basis-Tipps für angehende Birder wie etwa den Hinweis, dass der schnellste Weg, gemeldete Raritäten zu sichten, nicht darin besteht, nach dem Vogel, sondern nach der Ansammlung von Birdern Ausschau zu halten, die diesen schon im Visier haben.
Die oben zitierte, hübsche Invektive Richard Fords gegen Fahrradfahrerfunktionskleidung stammt aus dessen Aufsatz "Vom Spaziergehen und Aufbrechen", der wiederum in der von Duncan Minshull herausgegebenen Anthologie "Von Wegen und Umwegen. Betrachtungen über das Leben zu Fuß" bei HarperCollins enthalten ist.
Als Begleitmusik für Spaziergänge aller Art drängt sich Miles Davis’ "Walkin’" auf: hier in einer leider nicht näher ausgewiesenen Bigband-Aufnahme von 1957. Mit einem Spaziergang hat die überaus sportliche Version des zweiten Quintetts dann allerdings nichts mehr zu tun.
Am vergangenen Samstag um zehn Uhr Vormittag konnte der FaWaWa am Wiener Graben zwischen Leopoldsbrunnen und Pestsäule eine Schlange von schätzungsweise zwei- bis dreihundert Menschen beobachten, von denen einige auch mit Klappstühlen ausgerüstet waren. Und jetzt zur Auflösung: All diese, mit der bioneurologischen Grundausstattung des Homo sapiens versehenen Lebewesen, haben sich vor dem Swatch-Store angestellt, wo an diesem Tag die neuen Modelle einer Kooperation von Swatch und Blancpain lanciert wurde. Ich glaube nicht, dass diese Gattung noch zu retten ist.
Noch mehr haltlose Self-Promotion: Am Dienstag, den 26. September (19 Uhr) darf ich in der wunderbaren Buchhandlung Seeseiten in der Seestadt mein Buch "Famose Vögel" vorstellen.
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