Wie Wien psychisch erkrankte Kinder im Stich lässt - FALTER.morgen #338

Versendet am 02.06.2022

Wien lässt psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche im Stich – die Chronik eines Systemversagens >> Kündigung für PCR-Test-Verträge vergessen: Jetzt drohen dem Bildungsministerium 11 Mio. Pönale >> Unser Fassadenleser Klaus-Jürgen Bauer über Arabesken in Salmannsdorf

Wetterkritik: Gestern hat der Sommer noch geübt (übrigens viel talentierter, als hier vorhergesagt), heute kann er es schon recht gut – mäßiger Wind und zunehmend sonnig bei bis zu 27 Grad. Fein ist das!


Guten Morgen,

Oft läuft die journalistische Arbeit so: man entdeckt ein spannendes Thema, recherchiert, dann kommt ein anderes Thema dazwischen und die Notizen wandern in die Schublade. Nicht weiter tragisch, solange sie dort nicht versauern. Wenn irgendwann der richtige Anlass kommt – und der kommt bestimmt –, kramt man sie eben wieder hervor. 

Zu den Missständen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie habe ich schon 2019 recherchiert. Weil: um die Versorgungsmängel weiß man bereits seit Jahren Bescheid. Die Ärzte wussten es (und warnten), der Wiener Gesundheitsverbund wusste es, und die Politik wusste es auch. Aber es brauchte erst eine Pandemie, um das Fass zum Überlaufen zu bringen: Die größte Kinder- und Jugendpsychiatrie Wiens, der Rosenhügel, stand kurz vorm Zusperren. 

Jetzt, wo ich seit einigen Wochen beim FALTER arbeite, war die Gelegenheit perfekt, um die Probleme am Rosenhügel in einer großen Reportage zu umreißen. Mit nur drei Fachärzten muss die Abteilung ab dem Sommer auskommen, gegenüber zwölf im Oktober 2020. Letzte Woche schlugen die Assistenzärzte mit einem Schreiben Alarm und warnten vor gefährlichen Behandlungsfehlern, aufgrund von Personalmangel. 

Mindestens doppelt so viele Krankenhausbetten für psychisch erkrankte Kinder bräuchte es laut Experten. Und schuld daran ist nicht nur Corona, sondern auch die Stadt Wien. Keine Konzessionen bei Gehaltsverhandlungen, grobe Fehler in der Planung, und wenig Interesse für die, die unsere Hilfe am meisten brauchen: Kinder. Die Details erfahren Sie in der Geschichte weiter unten. 

Außerdem gibt's heute eine peinliche Panne aus dem Bildungsministerium, die dem Staat Österreich elf Millionen Euro kosten könnte – recherchiert von Soraya Pechtl; Matthias Dusini schickt Sie mit seinem Buch Hotel Paradiso raus zu wunderbaren Orten in Mitteleuropa, die auch mit Öffis gut erreichbar sind; und unser Fassadenleser Klaus-Jürgen Bauer entdeckt in Salmannsdorfer Ornamenten ein Statement besserer Leute.

Einen schönen Tag wünscht Ihnen

Lina Paulitsch


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„Desinteresse und Missmanagement“

Unzureichende Ausbildung, zu wenig Personal und strukturelle Versäumnisse: Bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien liegt vieles im Argen – zulasten der jungen Patientinnen und Patienten.

„Depression“, „Selbstverletzung“, „Drogen“, „Anorexie“ steht in den Krankenakten. 36 Betten stehen derzeit am Rosenhügel zur Verfügung, 60 insgesamt in Wien. Um die Hälfte zu wenig. Die Abteilung umfasst eine Station für kleine Kinder, zwei Stationen für Jugendliche und eine Ambulanz. „Es sind jedenfalls viel zu wenig stationäre Plätze“, sagt Patientenanwältin Rita Gänsbacher vom Vertretungsnetz, das psychisch kranke Menschen vertritt und berät. „Und das weiß die Gemeinde Wien schon seit vielen Jahren.“

581 Kinder und Jugendliche wurden in ganz Wien im Jahr 2021 auf der Psychiatrie aufgenommen, um fast ein Viertel mehr als 2019, dem letzten Jahr vor der Covid-Pandemie. Lockdowns, Schulschließungen, die Unterbrechung des eigenen jungen Lebens, das hat vielen Kindern zu schaffen gemacht. 16 Prozent der befragten Jugendlichen gaben in einer Studie der Donau-Uni Krems an, regelmäßig Suizidgedanken zu haben. „Mit Covid ist auch am Rosenhügel alles noch schlimmer geworden“, sagt Meier.

Mehr Patienten, schwerere Fälle auf der einen Seite, immer weniger Fachärzte auf der anderen. Von zwölf Fachärzten im Oktober 2020 sind nur noch drei übrig geblieben. Schon kamen Gerüchte auf, der Wiener Gesundheitsverbund (Wigev) könnte die Station ganz schließen. Da hatten vier Fachärzte innerhalb weniger Tage ihren Dienst quittiert. Warum? „Eine toxische Mischung aus Desinteresse und Missmanagement“, nennt es ein Kinderpsychiater.

Immer wieder kommt es vor, dass Kinder und Jugendliche, die eigentlich dringend eine stationäre Behandlung bräuchten, weggeschickt werden © Illustration: Georg Feierfeil

Auch die Assistenzärzte schlagen Alarm: „Durch die zahlreichen Kündigungen von Fachärztinnen und Fachärzten erleben wir eine mehr als unzureichende Ausbildungssituation, die ausgedünnten Anwesenheiten der Fachärzte erlauben keine adäquate Supervision“, so die Gefährdungsmeldung im Wortlaut, die 15 Assistenzärztinnen und Assistenzärzte vergangene Woche an ihren Dienstgeber, den Wigev, verschickt haben. Es ist das Eingeständnis, dass die Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet werden kann.

Regelmäßig seien Kinder weggeschickt worden, erzählt auch Assistenzärztin Sarah Meier. „Einmal habe ich ein Mädchen, es war 14 und hat die Wohnung nicht mehr verlassen, auf die Warteliste für ein Bett auf unserer Station gesetzt“, erzählt Meier. Da das Mädchen nicht akut selbstmordgefährdet gewesen sei, hätten andere Ärzte es später wieder von der Liste gestrichen. „Wochenlang hatte ich dem Mädchen gesagt, dass es durchhalten müsse. Ich habe den Aufenthalt bei uns wie eine Karotte dem Esel hingehalten, um dem Kind ein Ziel zu geben.“ Das Mädchen bekam den Platz schließlich nicht. „Ich fühlte mich furchtbar.“

Über Jahre hinweg haben die Ärzte am Rosenhügel immer wieder Gefährdungsanzeigen eingebracht. Die „Verantwortung für möglicherweise auftretende Behandlungsfehler“ könne aufgrund des Personalmangels nicht länger getragen werden, heißt es etwa in einem Schreiben vom 31. Mai 2021 an die Generaldirektion, das dem FALTER vorliegt. „Diese ganz katastrophale Entwicklung hat der Wigev jahrelang nicht ernst genommen“, sagt Gottfried Fellner, ein Kinderpsychiater, der den Rosenhügel vor kurzem verlassen hat. „Ich konnte nur mehr nach Dringlichkeit entscheiden, wo ich als Erstes hingehe, wer als Erstes behandelt wird“, sagt Fellner: „Leitung, Ambulanz, Visiten – all diese Aufgaben kann niemand alleine schaffen.“ Irgendwann habe er einfach keine Kraft mehr gehabt.

Es handle sich um ein internationales Problem, erwidert der Wigev in einer Stellungnahme. Fachkräfte fehlten in ganz Europa.

Aber es gibt ganz konkrete Vorwürfe von Versäumnissen:

  • Das AKH hat die Betreuung für den 1. und 3. Bezirk an den Rosenhügel übergeben, wodurch eine zusätzliche Belastung entstand.

  • Die Gehälter, die der Wigev bezahlt, gelten als nicht marktkonform, die Arbeitsverträge sind unflexibel. Das führt dazu, dass viele Fachärztinnen und Fachärzten in den Privatbereich abwandern.

  • Für das neue KH Nord warb sich der Wigev selbst Fachkräfte vom Rosenhügel ab, ohne sie dort zu ersetzen.

Glaubt man dem Wigev, dann ist das alles kein Problem. Es werde jetzt doch der Posten für den Primar neu ausgeschrieben. „Darüber hinaus laufen intensive Recruiting-Maßnahmen im In- und Ausland, um dem europaweiten Fachärztemangel entgegenzuwirken“, heißt es in einer Stellungnahme.

Eine ausführliche Reportage zum Thema finden Sie auf falter.at.

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Recherche

Soraya Pechtl

Kostspieliges Test-Ende

Seit gestern finden an Österreichs Schulen keine PCR-Tests mehr statt. Warum der Republik nach FALTER-Informationen jetzt ein Pönale in Millionenhöhe drohen könnte.  

Es schien wie ein logischer Schritt, als Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) vorige Woche das Ende der PCR-Tests in den Schulen verkündete. Zuletzt wurden schließlich immer weniger Schülerinnen und Schüler positiv getestet. Auch bundesweit gingen die Inzidenzen zurück. Gut, in den vergangenen Tagen stiegen sie wieder leicht an. Wir wollen jetzt auch gar nicht darüber diskutieren, wie sinnvoll diese Maßnahme ist (das überlassen wir den Experten). 

In Wien können die Schülerinnen und Schüler weiterhin freiwillig gurgeln © APA/GEORG HOCHMUTH

Neben epidemiologischen und virologischen Argumenten gibt es ja auch andere Gründe, das Testen abzuschaffen. Die Kosten zum Beispiel. Laut Zahlen des Finanzministeriums hat Österreich seit Pandemiebeginn rund 2,6 Milliarden Euro dafür ausgegeben (Stand Februar). Und mit Steuergeld gilt es schließlich sorgsam umzugehen. Ist das Ende der Schultests also auch eine Sparmaßnahme?

Naja. 

Denn Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) hat nach FALTER.morgen-Informationen offenbar vergessen, den Vertrag mit der ARGE für molekulare Diagnostik zu kündigen.

Die Salzburger Laborgemeinschaft hat bislang in acht Bundesländern (mit Ausnahme von Wien, dort ist das Labor Lifebrain zuständig) die PCR-Tests in den Schulen ausgewertet. Der Vertrag zwischen ihr und dem Bildungsministerium läuft eigentlich noch bis Ende des Schuljahres. 

Weil Polaschek den Vertrag aber nicht fristgerecht aufgelöst habe, würde jetzt ein Pönale von elf Millionen Euro fällig. Bei AHS-Lehrerinnen-Einstiegsgehältern um die 2.700 Euro brutto (das Gehaltsschema ist kompliziert) könnte man inklusive aller Nebengeräusche damit gut und gern 200 Pädagogen ein ganzes Jahr lang bezahlten.

Das Bildungsministerium hat die Vorwürfe gegenüber FALTER.morgen nicht dementiert. „Wir sind vertragskonform vorgegangen. Die Gespräche mit der Bietergemeinschaft über die genaue Abwicklung laufen noch, deshalb können wir uns zu Einzelheiten aktuell noch nicht äußern, heißt es bloß.

Die ARGE für molekulare Diagnostik hat auf unsere Anfrage nicht reagiert. Die Bundesbeschaffungsagentur, die den Auftrag ausgeschrieben und das Verfahren abgewickelt hat, wollte sich gestern ebenfalls nicht dazu äußern.


Stadtnachrichten

Seit gestern die Regenbogenfahne am Rathaus heisst wurde, ist die Vienna Pride 2022 quasi amtlich eröffnet. Bis 12. Juni finden jede Menge Veranstaltungen (hier geht's zum Event-Kalender) statt, Höhepunkte sind der Pride Run am 10. Juni und die Regenbogenparade am 11. Juni, zu der mehr als 250.000 Menschen erwartet werden.

© Martin Darling


Haben Sie am verlängerten Wochenende schon was vor? Nein? Dann haben wir weiter unten einen Ausflugstipp für Sie. Wenn Sie über Pfingsten mit dem Zug verreisen wollen, sollten Sie damit rechnen, dass die Waggons brechend voll sind. Im April diesen Jahres wurden rund 14 Prozent mehr Fahrgäste als Vergleichszeitraum des Jahres 2019 gezählt, wie die ÖBB am Dienstag mitteilten.

Da kann es auch mal vorkommen, dass Fahrgäste ohne Sitzplatzreservierung den Zug wieder verlassen müssen. Die Bundesbahnen empfehlen daher an starken Reisetagen, einen Sitzplatz zu buchen (das gilt auch für Klimaticket-Besitzerinnen). Verpflichtend soll die Sitzplatzreservierung aber nicht werden, hieß es am Dienstag.

Man wolle stattdessen die Kapazitäten erweitern. Für das Pfingstwochenende hat die ÖBB angekündigt zusätzliche 13.000 Sitzplätze zur Verfügung zu stellen.


Die Veranstaltung „Pezi und die Science Busters“, die wir Ihnen im gestrigen Newsletter ans Herz gelegt haben, musste krankheitsbedingt auf Mai 2023 verschoben werden. Die Tickets werden umgetauscht oder erstattet.


Feedback

Noch ein Feedback zu unserem Pro-Contra um die Stadtstraßen-Proteste, das wir Ihnen nicht vorenthalten möchten: FALTER.morgen-Leser Josef Kerschbaum macht darauf aufmerksam, dass bei der Debatte gerade die ältere Generation und ihre Bedürfnisse nicht wirklich berücksichtigt werden:

„Wir dürfen nicht vergessen, dass die persönliche Mobilität ein Grundrecht aller Menschen ist. In den vielen Beiträgen werden die Menschen aber nur noch auf radfahrende Bobos reduziert.

Wir werden die Mobilität weiterhin brauchen, umweltfreundlich und leistbar. Jahrzehnte hat man uns die Fahrzeuge dazu teuer verkauft, und diese Konditionierung werden wir nicht durch provozierte Staus und festgeklebte Jugendliche berichtigen. Auch die Wirtschaft mit ihrer jahrzehntelangen Forderung nach Mobilität der Arbeitenden hat einiges beigetragen – Zumutbarkeit der Anfahrtswege, sage ich nur. All diese Fehlentwicklungen mit der Mähr des ewigen Wachstums zeigen Wirkung. Ein wachsende Bevölkerung braucht lebenswerten Platz und Arbeit. Dann muss eben gebaut werden, oder?

Wir befinden uns jetzt auf einer Zeitreise in die 1950er und 1960er Jahre. Vintage ist angesagt. Das Problem ist nur, dass die hippen Strömungen vor allem von jungen, fitten Stadtbewohnern vorangetrieben werden. Ohne Rücksicht auf andere Bevölkerungsgruppen. So wie sie es gelernt haben: Wirtschaftlich, schnell und ohne Kompromisse. Ältere, Behinderte, Unsportliche, Arme müssen mit- oder untergehen.

Es ist leicht, von anderen einzufordern was einem selbst am leichtesten fällt.

Die Stadt entwickelt sich, die Jugend bewegt sich und fordert Mitsprache. Das ist sehr gut. Aber vergesst nicht: Die Alten wissen, wie es ist, jung zu sein. Ihr habt keine Ahnung vom Gegenteil. Diese Erfahrungen fehlen in dem ganzen Gespräch.“


Falter Radio

Allein gelassen oder nicht?

© FALTER

In der aktuellen Folge sprechen Nina Andresen von der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe Train of Hope, die private Helferin Tanja Maier, Alisa Khokhulya vom Integrationsprojekt Drusi & Hawara sowie FALTER-Redakteurin Nina Brnada bei Raimund Löw über die Lage von ukrainischen Flüchtlinge in Österreich.


Lokaltipp

Döner Brutal

Die kulinarische Außenstelle der St. Charles Apotheke hat einen neuen Spielplan: Nach Streetfood-Klassiker eins, Burger, gibt es im so oft neu ausgerichteten Winziglokal jetzt Döner. Vier Monate Vorlauf flossen in die Produktentwicklung, sprich recherchieren, Produzenten aussuchen, fermentieren und ausprobieren. Das unbescheidene Ziel: die Fastfood-Ikone Döner rehabilitieren.

Dafür wurden die Zutaten auf das Wesentliche reduziert: Brot, Fleisch, Zwiebel, Paradeiser, Joghurt. Jede Komponente kommt in Elitequalität in das eigens in einer Favoritener Bäckerei gebackene Biosauerteigbrot. Das Resultat schmeckt richtig gut, das Fleisch zart, aber mit Biss und subtiler Würze, jede Komponente unverkennbar. Dille und Petersilie verpassen dem Brutal-Döner eine angenehme Frische, Chiliflocken passable Schärfe. Richtig geil!

Die gesamte Lokalkritik von Nina Kaltenbrunner lesen Sie hier.


Wir Schicken Dich Da Raus

Spätestens mit offiziellem Sommerbeginn ist es Zeit für die Urlaubsplanung. Wir schicken Sie deshalb mit Hilfe von Matthias Dusinis wunderbarem Buch Hotel Paradiso raus zu wunderbaren Orten in Mitteleuropa, die auch mit Öffis gut erreichbar sind.

Torviscosa – ein Besuch in der Traumstadt des Unternehmers Franco Marinotti

In den Sümpfen hinter Grado entstand in den 1930er-Jahren eine Planstadt, die Industriearbeit, Wohnen und Freizeit verband. © FALTER

Einer der ungewöhnlichsten Orte Norditaliens: Torviscosa ist ein Ort für sportliche Menschen, lange Straßen, Parks und wenig Ablenkung. Kaum einer der Gäste, der den beschaulichen Badeort Grado mit seinen Jugendstilvillen besucht, kennt jene schrecklich schöne Vision, die sich dem Zusammenspiel von zwei M verdankte: Marinotti und Mussolini. In den 1930er-Jahren entstand mit Torviscosa eine Planstadt, die Industriearbeit, Wohnen und Freizeit verband. Franco Marinotti war ein italienischer Unternehmer, der die SNIA Viscosa zum globalen Konzern ausbaute. Er verwandelte Torviscosa durch die Produktion von Kunstfasern in eine der wichtigsten company towns des 20. Jahrhunderts.

Das Rathaus mit dem Uhrturm bildet den Mittelpunkt Torviscosas, davor öffnet sich der Hauptplatz, der einer alten Piazza nachempfunden ist. Die Torbögen erinnern an eine mittelalterliche Stadt, der Turm an eine Campanile. Eine von Statuen und Pergolen gesäumte Allee zieht sich schnurgerade vom Fabriktor bis zum Fußballstadion. Entlang dieser Freizeitachse befinden sich der Lido und die Villa Marinottis, in der er sich bei seinen Besuchen aufhielt. 

Torviscosa ist eine Gemeinde in der Region Friaul-Julisch Venetien. Sie ist dreiundzwanzig Kilometer von Grado und sechzig Kilometer von Triest entfernt. 

Anreise: Von Wien aus mit dem Fernbus bis nach Triest, von dort weiter mit dem Zug nach
San Giorgio di Nogaro und dann weiter nach Torviscosa entweder per Bus (Linie TS332), Taxi oder Auto (10 Minuten).

Mehr über das Buch Hotel Paradiso und seinen 13 besonderen Orten in Mitteleuropa im faltershop.at.


Frage Des Tages

Welcher dieser Kaiser starb nicht in Wien?

1) Marc Aurel

2) Rudolf II.

3) Franz Josef

Auflösung von gestern: Das älteste Hochhaus Wiens – es befindet sich in der Herrengasse – hat 16 Stockwerke (nicht 10 oder 24).


Event Des Tages

Lisa Kiss

Theater

Die Stücke des Vorarlberger Aktionstheater Ensembles kann man meist auch ungesehen empfehlen. Nun feiert die neueste Arbeit der Theatertruppe rund um Regisseur Martin Gruber ihre Wien-Premiere. „Lüg mich an und spiel mit mir“ ist eine Stückentwicklung über die allgemeine Verstörung über Corona, Klimakrise und Krieg. Der Abend ist eine Art Weiterentwicklung von „Pension Europa“ ( 2014). Die Zeiten haben sich geändert, gemütlicher wurde es nicht. Kann das Theater etwas ausrichten? Damit beschäftigt sich das tolle Ensemble. Und mit der Frage: Warum greifen wir immer wieder ins Klo der Geschichte? (Sara Schausberger)

Werk X, 19.30


Buchtipp

Babettes Gastmahl

Stockfisch und Brotsuppe sind die kulinarischen Standards im Haushalt zweier Pastorentöchter in der nördlichsten Einschicht Norwegens. Just dorthin verschlägt es die Titelheldin, geflohene Kommunardin und Meisterköchin aus Paris -ein Clash of Cultures, der nicht ohne Folgen bleibt. Die Dänin Tania (eigentlich: Karen) Blixen hat ihre, auch durch die Verfilmung von 1987, berühmte Erzählung zunächst auf Englisch geschrieben, die erweiterte dänische Fassung von 1958 liegt nun erstmals auf Deutsch vor.

Dank Ulrich Sonnenbergs brillanter Übersetzung vermag Blixens 60-seitiges Prosakammerspiel (das durch ein fast ebenso langes Nachwort des norwegischen Schriftstellers Erik Fosnes Hansen ergänzt wird) seine volle Strahlkraft zu entfalten. Ein farbenreiches Fest der subtilen Figurenzeichnung, der Ironie und der Erzählökonomie. (Klaus Nüchtern) 

Die gesamte Rezension und mehr über das Buch unter faltershop.at


Der Fassadenleser

Klaus-Jürgen Bauer

Das blümerante Ornament

Die Celtesgasse in Salmannsdorf liegt am äußersten Wiener Stadtrand. Kurz dahinter beginnt schon der Wienerwald, der erst wieder bei Hainfeld endet. Ältere Neubauten aus der Zeit, als es nach dem Krieg wieder aufwärts ging, prägen dort beidseitig des alten Dorfzentrums das Ambiente. Man könnte sagen: Es sind Bauten aus der Peter-Alexander-Zeit.

Ornamental gestaltete Fenster aus der „Peter-Alexander-Zeit" © Klaus-Jürgen Bauer

Überraschend viele Bauteile dieser Epoche wie Gartenzäune – oder eben dieses Fenstergitter – waren ornamental gestaltet. Während unten in der Stadt glatt und schnörkellos, also modern gebaut wurde, so war hier oben das Ornament ein Statement von besseren Leuten.

Die Bedeutung des lateinischen Wortes ornare ist schmücken. Ornamente sind sich wiederholende, oft abstrakte Muster. Das geschwungene und hübsche Schatten werfende Fenstergitter ist eine sogenannte Arabeske, die sich geschichtlich trotz ihres Namens nicht aus der arabisch-islamischen Kunst heraus entwickelt hat, sondern eher aus spätantiken, hellenistischen Vorbildern, die allerdings erst nach der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453 ihren Weg nach Europa gefunden haben und dann weitere 500 Jahre später nach Salmannsdorf.


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