Mein Essen im Mistkübel - FALTER.natur #112
Ich erinnere mich noch gut an eine Szene aus dem Film "We Feed the World", den der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer im Jahr ...
Im Jahr 2019 tauchte der Abenteurer Victor Vescovo tiefer als je ein Mensch vor ihm. Knapp elf Kilometer unter dem Meeresspiegel entdeckte er am Boden des Marianengrabens ein Plastiksackerl. Nur ein Jahr später analysierten Forscher auf 8.440 Metern Höhe nahe der Spitze des Mount Everests den Schnee. Sie fanden: Mikroplastik.
Das Zeug ist überall. Am Nordpol und am Südpol. Auf allen Erdteilen, in allen Weltmeeren. In der Küche, im Wohnzimmer und im Kinderzimmer. Im Gewand, im Duschgel, in der Zahnpasta. Im Erwachsenen-Kot und im Baby-Lulu.
Alleine zwischen 2000 und 2015 hat die Plastikproduktion laut einer Studie um rund 80 Prozent zugenommen. Laut dem Plastik-Müll-Macher-Index sind nur 20 Firmen für 55 Prozent des weltweiten Plastikmülls verantwortlich. Die österreichische Borealis AG belegt in diesem Ranking Platz 11.
Plastik ist für die Industrie unheimlich praktisch. Es ist billig, leicht, super formbar, bei Bedarf sehr stabil und hält lange. Der Nachteil ist: Es bringt die ökologische Welt aus dem Gleichgewicht. Hier kommt das wissenschaftliche Konzept der sogenannten "Belastungsgrenzen des Planeten" ins Spiel. 2009 haben WissenschaftlerInnen mehrere ökologische Krisen ausgemacht, von denen sich die Natur, wie wir sie kennen und zum Leben brauchen, nicht mehr erholen könnte. In einigen Bereichen haben die Menschen die sichere Zone bereits verlassen und sich auf ganz dünnes Eis begeben. Wir haben unter anderem das Klima verändert, die Artenvielfalt angegriffen und den Stickstoffkreislauf manipuliert (und so Flüsse, Seen und Meere überdüngt). Wo wir bereits über die sicheren Grenzen gegangen sind, finden Sie hier in einer Grafik, und wenn Ihnen die zu fad sein sollte und Sie einen emotionalen Kick brauchen: Netflix hat das Thema in spektakuläre Filmszenen übersetzt und daraus eine Doku gemacht.
Während WissenschaftlerInnen die Sicherheitsgrenzen in vielen ökologischen Bereichen bereits vermessen haben, fehlten in einem bislang die Daten: nämlich in jenem, wie sich die "neuen Substanzen" auf die Erde auswirken, also jene Stoffe, die wir Menschen selbst erschaffen haben. Davon gibt es geschätzt 350.000 verschiedene Arten, dazu zählen Kunststoffe, Pestizide, Medikamente und Chemikalien in Konsumgütern. Sie haben unser modernes, bequemes Leben erst möglich gemacht. Aber: "Deren Auswirkungen auf das System Erde sind weitgehend unbekannt. Jedes Jahr gelangen beträchtliche Mengen dieser neuartigen Stoffe in die Umwelt", erklärt das Stockholm Resilience Center der Universität Stockholm, "Seit 1950 ist die Produktion von Chemikalien um das 50-fache gestiegen."
Da ist also ganz schön etwas passiert in nur einem Menschenleben. Und es geht munter weiter. Die Produktion wird sich bis 2050 voraussichtlich noch einmal verdreifachen, schätzen die WissenschaftlerInnen. Das Stockholm Resilience Centers kommt in einer brandheißen Studie zum Schluss: Auch im Bereich der "neuen Substanzen" hat die Menschheit heute schon die sichere Grenze weit hinter sich gelassen. Wer nun ein Bild braucht, um das Problem zu verstehen: Alle Kunststoffe auf der Erde wiegen inzwischen mehr als doppelt so viel wie alle Säugetiere dieser Welt. Jedes Jahr gelangen laut Schätzung der Weltnaturschutzunion IUCN mindestens weitere 14 Millionen Tonnen Plastik in die Ozeane. Fünf riesige Müllstrudel sind heute bekannt, der größte liegt im Nordpazifik, er ist so groß wie Mitteleuropa.
Es geht bei diesem großen Thema nicht nur um die Vögel, die Plastik fressen und daran krepieren. Wir alle tragen diese "neuen Substanzen" mittlerweile in uns. Die Gefahren für Sie und mich sind mannigfaltig. Chemische Substanzen können Krebs erregen und das Erbgut schädigen, sie können Allergien auslösen und das Hormonsystem durcheinander bringen. Man muss sich nur ansehen, was alleine die Kunststoffweichmacher namens Phthalate anrichten, die unter anderem in Kabeln, Folien, Fußbodenbelägen, Schläuchen, Tapeten, Sport- und Freizeitartikeln vorkommen. Sie machen nicht nur Kunststoff weich, sondern - Männer, jetzt heißt es stark sein - den Hoden und das Zumpfi klein. Und noch viel wichtiger: Sie gefährden die Fruchtbarkeit der Frauen.
Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma? Ja! Ich übergebe das Schlusswort an Sarah Cornell vom Stockholm Resilience Centre: "Die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft ist wirklich wichtig. Das bedeutet, dass Materialien und Produkte so verändert werden müssen, dass sie wiederverwendet und nicht verschwendet werden können, dass Chemikalien und Produkte so konzipiert werden, dass sie recycelt werden können, und dass die Sicherheit und Nachhaltigkeit von Chemikalien entlang ihres gesamten Wirkungspfads im Erdsystem viel besser geprüft wird."
Benedikt Narodoslawsky
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Bei den oben genannten Mengen kann man leicht einmal den Überblick verlieren. Im letzten Falter.Natur-Newsletter hat Gerlinde Pölsler über Pestizide geschrieben, die – wie erwähnt – ebenfalls zum Problem der neuen Substanzen zählen. "In Österreich landeten im Jahr 2020 gut 13 Tonnen Pestizide auf den Feldern, das sind 3,5 Kilo pro Hektar Ackerland", schrieb Pölsler. Der aufmerksame Newsletter-Leser Johann Zaller, der übrigens ein bemerkenswertes Buch über Pestizide geschrieben hat, machte uns freundlich darauf aufmerksam, dass es nicht 13 Tonnen waren. Sondern gut 13.000 Tonnen.
Vor Kurzem las ich das Buch "Propagandaschlacht ums Klima" vom Klimaforscher Michael E. Mann. Darin beschreibt er, wie die Getränke-Industrie ein nationales Pfandsystem verhinderte, die das Müllproblem entschärft, aber die Gewinne der Konzerne geschmälert hätte. Mit Lobbying und Werbekampagnen (wie mit diesem legendären Spot) gelang es ihr, das Pfand als Mehrkosten für die Konsumenten umzudeuten, und bewarb zugleich freiwilliges Müllsammeln und -trennen. So wälzte die Industrie die Verantwortung der Konzerne auf die BürgerInnen ab. Die gesetzlichen Auflagen für die Industrie kamen nicht, stattdessen wurden Leute, die ihren Mist auf die Straße warfen, zu den Sündenböcken der Gesellschaft. Diese Strategie der Schuldabwälzung wenden nun auch Kohle-, Öl- und Gas-Konzerne an, um wirksame Klimapolitik zu verhindern.
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Die türkisgrüne Regierung hat ja wirksame Klimapolitik versprochen und sich dem großen Ziel verschrieben, unser Land bis 2040 klimaneutral zu machen. Aber wie bitteschön soll das denn gehen? 100 BürgerInnen sollen künftig genau dazu Vorschläge für Österreichs Politik erarbeiten. Am Wochenende hat sich der "Klimarat der Bürgerinnen und Bürger" zum ersten Mal im Wiener Hilton-Hotel an der Donau versammelt. Meine Kollegin Katharina Kropshofer und ich haben uns dort herumgetrieben und unter anderem Madeleine aus Oberösterreich getroffen, die zum 100er-Club gehört und über den Klimawandel so gut wie nichts wusste.
Warum ausgerechnet Madeleine und die anderen 99 das Potenzial haben, die österreichische Klimapolitik voranzutreiben und woran der Klimarat scheitern könnte, lesen Sie im aktuellen Falter in dieser kostengünstigen Reportage. Und weil es uns nicht nur um die Kohle geht, sondern auch ein bissl um die Rettung der Welt, haben wir auch einen kostenlosen Podcast gemacht, den Sie sich ab Samstag hier anhören können. Darin werden die Klimavolksbegehren-Sprecherin Katharina Rogenhofer, der Klimaforscher Georg Kaser und die Demokratieforscherin Tamara Ehs erzählen, wie es zum Klimarat kam, welche Rolle die Wissenschaft dabei hat und was der Klimarat für Österreichs Demokratie bedeuten könnte.
Was beim Klimarat offensichtlich wurde: Wie wenig die Menschen noch immer über die Klimakrise wissen und wie wuchtig sie wissenschaftliche Fakten treffen, wenn sie damit konfrontiert werden. Sie habe es gerade noch ausgehalten, erzählte Madeleine, aber "an meinem Tisch ist ein Mädl gesessen, das war fix und fertig".
Wenn wir diesen riesigen Wandel hinbekommen wollen, brauchen wir aufgeklärte BürgerInnen. In Österreich gibt es seit Kurzem die Möglichkeit, WissenschaftlerInnen kostenlos zu buchen, die in entspannter Atmosphäre BürgerInnen die Klimakrise vermitteln. Das Projekt heißt Climate@Home, stammt ursprünglich von den Scientists for Future aus Stuttgart und wurde im Vorjahr mit dem K3-Preis für Klimakommunikation ausgezeichnet. Falls Sie FreundInnen, NachbarInnen oder Verwandte fürs Klimathema sensibilisieren wollen und erfahren möchten, wie so ein Treffen abläuft, klicken Sie hier.
Ich weiß nicht, ob Sie die Filmsatire "Don't Look Up" gesehen haben, jedenfalls ist sie sehr toll, und es geht darin auch darum, dass die Medien lieber über Stars berichten als über einen Kometen, der die Erde auszulöschen droht. Falls Sie das jetzt für völlig übertrieben halten, dann... naja. Die Hilfsorganisation Care hat vor wenigen Tagen einen Bericht veröffentlicht, der zeigt, wie oft Medien im Vorjahr über jene humanitäre Krisen berichtet haben, die mindestens eine Million Menschen betrafen. In vielen Ländern hängt dieser Kampf ums nackte Überleben direkt mit der Klimakrise zusammen. Während von den rund 1,8 Millionen untersuchten Online-Artikeln nur 512 Berichte die Notlage in Sambia behandelten, wo die Menschen unter den "schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels" leiden, gab es 362.522 Beiträge über das Interview von Oprah Winfrey mit Harry und Meghan.
Also 708 Mal mehr Berichte über drei reiche Promis als über 1,2 Millionen Hungernde. Meine Zusammenfassung des Berichts finden Sie hier.
Bei aller Kritik muss man gleichzeitig auch darauf hinweisen, dass in den letzten Wochen und Monaten im heimischen Klimajournalismus einiges weitergegangen ist. Der Radiosender Ö1 hat ein eigenes Klima-Dossier angelegt, der Radiosender FM4 präsentiert seit Oktober die FM4-Klimanews und hat vor wenigen Tagen dieses sehr coole Video über das graue Grauen in Grönland gemacht (und dabei auch auf "Don't Look Up" verwiesen).
Seit Mitte Jänner hat Der Standard jeden Dienstag eine eigene Klimaseite im Heft, um "die großen Fragen zur größten Krise der Menschheit zu thematisieren". Die Gratiszeitung Heute lobte vor wenigen Tagen den "Heute4Future-Award" aus, mit dem sie die Klimaschutzideen mit "Preisen im Wert von 100.000 Euro" auszeichnet. (Bewerben können Sie sich bis 28. Februar 2022.)
Seit diesem Monat legt auch der Fernsehsender ORF 2 mittwochs im Vorabendmagazin "Studio 2" einen Schwerpunkt auf Klima und Nachhaltigkeit. Mit dabei ist auch das Format "Klimaretter/innen", das – Zufall oder nicht – fast ganz genauso klingt wie das erfolgreiche Puls4-Format "KlimaheldInnen".
Herzlichen Dank an alle Newsletter-LeserInnen, die sich über die Weihnachtsferien die Zeit genommen haben, um mir Feedback auf dieses Ding hier zu geben. Ich habe alle E-Mails gewissenhaft gelesen, mir Ihre Vorschläge notiert und werde versuchen, sie bestmöglich für 2022 umzusetzen.
Überraschenderweise hat sich niemand über die nervige Abo-Keilerei beschwert, weshalb sie wegen Erfolgs verlängert wird: Wenn Sie unsere Arbeit schätzen, können Sie uns mit einem Abo unterstützen. Dann schlafen die Chefs auch ruhiger und alle sind entspannter.
Und falls Sie irgendetwas in diesem Newsletter spannend fanden, können Sie ihn natürlich auch gern an alle weiterleiten, die das auch spannend finden könnten. Falls Sie ihn über Social Media teilen wollen, finden Sie ihn kurz nach dem Versand auf falter.at/natur.