Das große Tabu - FALTER.natur #52

Benedikt Narodoslawsky
Versendet am 25.03.2022

Vor wenigen Tagen ist Erhard Busek gestorben, er hat meinen Blick auf die Politik verändert. Vor 15 Jahren sah ich den ehemaligen ÖVP-Vizekanzler bei den "Feldbacher Europagesprächen". Er war der Stargast, blickte abwesend drein, gähnte nahezu demonstrativ, putzte sich vor seinem Auftritt mit seiner Krawatte die Brille und stolperte schließlich auf die Bühne. "Was für ein komischer Kauz?", dachte ich mir. Dann sprach er die ersten Worte und ich hing sofort an seinen Lippen. Er erzählte von der großen Idee der Europäischen Union – diesem unglaublichen Friedensprojekt – und leuchtete zugleich die Grenzen in unserem Kopf aus, die entstanden sind, wo einst keine waren. Die Tramway fuhr einmal von Wien nach Bratislava. Wer könnte sich das heute vorstellen?

Buseks Rat, den ich von diesem Abend mitnahm und seither beherzige: Man solle Politik nicht nur kurzfristig bewerten, sondern die Entwicklungen in größeren Zeiträumen betrachten. In 50-Jahre-Stiefeln marschierte Busek durch Österreichs Geschichte und war schon nach drei Schritten an zwei Weltkriegen und der Schlacht von Königgrätz vorbeigekommen. Er machte uns ZuhörerInnen klar: Friede in Österreich ist nichts Selbstverständliches. Es ist die historische Ausnahme.

Wenn wir auf die langjährige ökologische Entwicklung der Welt blicken, landen wir schnell bei einem Phänomen, das WissenschaftlerInnen die "Große Beschleunigung" nennen. Seit den 1950er-Jahren dreht sich die Erde immer schneller. Die Menschheit wuchs schneller, wurde schneller reicher, verbrauchte schneller mehr Energie. Gleichzeitig versauerten die Ozeane, erhitzte sich die Erde, begann das große Artensterben.

Die Beschleunigung wirkt sich auf alles und alle aus, auch auf meine Familie. Meine Mutter wuchs in den 1950ern mit sechs Geschwistern auf einem Bauernhof auf. Es gab das Schulgewand, das man solange trug, bis es zu schmutzig wurde – die Kinder hatten deshalb viele Tage hintereinander dasselbe an. Kein Kind habe sich arm gefühlt, weil das normal war und niemand mehr besaß, erzählt meine Mama. Es war ein Leben ohne Luxus, und dennoch war ihre Kindheit glücklich und sie sagt: "Uns hat nie etwas gefehlt." Meine beiden Töchter haben heute mehr Gewand als meine Mutter und ihre sechs Geschwister damals zusammen. Neulich fragte ein Kindergartenkind meine Tochter verwundert, warum sie dasselbe Gewand trage wie am Vortag. Denn das gilt heute nicht mehr als normal. Heute können Kinder gemobbt werden, wenn sie keine Markenkleidung tragen.

Mich umtreiben seit Jahren Fragen, die für die Ökologie entscheidend sind: Was können wir der Gesellschaft im Krisenfall zumuten? Sind wir bereit zurückzuschrauben, wenn es notwendig ist – und wann ist es notwendig? Können wir wieder mit weniger glücklich sein? Oder gibt es auch hier Grenzen im Kopf, wo einst keine waren?

Vergangene Woche hat sich die Regierung auf Maßnahmen gegen die Teuerung geeinigt. Sie haben dabei das Pendlerpauschale erhöht. Auch jene PendlerInnen bekommen nun mehr Geld fürs Autofahren, die mit den Öffis in die Arbeit kommen könnten. Während es ein ungeschriebenes Recht aufs Auto zu geben scheint, wird eine Geschwindigkeitsbegrenzung noch immer nicht diskutiert, obwohl sie schlagartig Energie sparen würde und nichts kostet. Trotz Krieg in Europa, Energiekrise, Klimakrise und Biodiversitätskrise bleiben gesellschaftliche Einschränkungen im Sinne des Energiesparens tabu. Selbst für eine Koalition, in der die Grünen mitregieren und die für den Klimaschutz gewählt wurden.

"Sobald wir uns an einen Luxus gewöhnt haben, verkommt er zur Selbstverständlichkeit. Erst wollen wir nicht mehr ohne ihn leben, und irgendwann können wir es nicht mehr", schreibt der Universalhistoriker Yuval Noah Harari in seinem Bestseller "Eine kurze Geschichte der Menschheit". Aber wie lange können wir uns Luxus noch leisten, wenn wir ökologisch auf Pump leben?

Vielleicht haben Sie darauf ja eine Antwort.

Benedikt Narodoslawsky

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Aus Dem Falter

Wir feiern heute Geburtstag! Der Natur-Newsletter erschien erstmals vor einem Jahr – und kann mittlerweile schon laufen. Weil das Natur-Ressort diese Woche ebenfalls ein Jahr alt wurde, feiern wir diesen Doppelgeburtstag mit einer sechsseitigen Cover-Geschichte über die wundervolle Welt der Insekten. Katharina Kropshofer hat dazu den Hummelforscher Dave Goulson interviewt, der zu Europas berühmtesten Naturschützern zählt.

Goulson spricht nicht nur über die Faszination der Sechsbeiner, sondern auch über die Gefahr, wenn immer mehr von ihnen verstummen: "Es gab 1976 doppelt so viele Schmetterlinge als in der Welt meines Sohnes heute. Nur ist die Anzahl, die er beobachtet, für ihn normal. Das macht mir große Sorgen. Seine Kinder werden vielleicht in einer Welt ohne Insekten leben, nie wissen, wie wunderschön ein Pfauenauge an einem Frühlingstag ist. Denn wie können wir etwas vermissen, das wir nicht kennen?" Ein fabelhaftes Insekten-Fotoprojekt von Josef Wittmann illustriert das tolle Gespräch und zeigt, wie groß der Schatz auf unseren Wiesen ist, den wir zu verlieren drohen.

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Aktivismus in Zeiten der Klimakrise – wo liegen die Grenzen?

Darüber diskutiert Philosoph Philipp Blom mit Michaela Krömer, Wolfgang Anzengruber und Michael Spiekermann am 30. März 2022 um 18 Uhr bei „oekostrom AG am Campus“ an der TU Wien. Anmeldung unter https://oekostrom.at/oekostromamcampus


Bücher

Hummelforscher Goulson hat gerade das Buch "Stumme Erde" herausgebracht, das Gerlinde Pölsler rezensiert hat. Mit Klaus Nüchtern hat Pölsler auch die frische, feine Falter-Bücherbeilage kuratiert, in der Sie einen Naturbuch-Schwerpunkt finden. Die Beilage mit allen Rezensionen lesen Sie kostenlos hier.

Der Titel von Goulsons Buch "Stumme Erde" bezieht sich übrigens auf Rachel Carsons bahnbrechendes Werk "Der stumme Frühling" (Silent Spring), mit der sie die Ökologiebewegung mitbegründete. Ein hörenswertes Stück über dieses Buch (und ein überraschend interessantes Tier namens Aal) haben die Podcaster von "Geschichten aus der Geschichte.FM" hier veröffentlicht.

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Empfehlung

Wenn Sie nach unserer Coverstory selbst Lust haben, in die Insektenkunde einzusteigen, ist vielleicht das Projekt Erlebnis Insektenwelt des Naturschutzbunds etwas für Sie. Damit können Sie Österreichs Sechsbeiner kennenlernen, Ihre Beobachtungen teilen und - falls Sie der Typ dafür sind - auch Teil einer Community werden. Ein ähnliches Konzept verfolgt auch das internationale Projekt iNaturalist, eine Gemeinschaft für NaturfreundInnen, die Funde miteinander teilt und bespricht. Die Initiative wird von der California Academy of Sciences und der National Geographic Society getragen.

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VBV im Diskurs| Die Rolle der Wissenschaft – Treiber oder Getriebene?

Beim Thema Nachhaltigkeit hat die Wissenschaft Großes geleistet. Doch kann sie das auch weiterhin? Oder wird sie immer mehr zum verlängerten Arm der Wirtschaft? Ein Diskurs mit Simulationsforscher Niki Popper, Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb, dem ehem. EU-Kommissar Franz Fischler u.w.m. Jetzt anmelden!


Aktiv Werden

Zum Abschluss darf ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf zwei Umweltevents lenken: Heute findet seit Langem wieder ein weltweiter Klimastreik statt, damit neben all den anderen Krisen die Klimakrise nicht vergessen wird. Wo heute überall gestreikt wird, sehen Sie hier.

Morgen heißt's dann Licht abdrehen. Die Earth Hour findet am Samstag um 20:30 Uhr statt. Damit wollen Millionen Menschen ein sichtbares Zeichen für den Klimaschutz setzen. Alle neun Landeshauptstädte beteiligen sich an der Aktion, unter anderem wird im Schloss Schönbrunn, beim Goldenen Dachl und dem Lindwurm in Klagenfurt das Licht ausgeknipst. Wenn Sie mitmachen wollen: Der WWF hat hier alle relevanten Infos gesammelt.

Wir lassen derweil die Spritzkerzen leuchten, der erste Geburtstag ist ja immer sehr besonders. Wenn Sie uns ein Geschenk machen wollen, freuen wir uns am meisten über ein Abo. Für alle, die uns bereits beschenkt haben: Danke, dass Sie diesen Newsletter möglich machen.


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