Wahl ohne Stimme - FALTER.natur #80

Benedikt Narodoslawsky
Versendet am 07.10.2022

Eine mir sehr nahestehende Person weiß nicht, wie sie wählen soll. Sie hat in der Regel kein Problem damit, Entscheidungen zu treffen. Aber die gefällte Entscheidung kann sich schlagartig wieder ändern. Letztens waren es die Cornflakes mit Milch. Die mir nahestehende Person forderte sie vehement zum Frühstück ein, es klang so, als sei sie sich wirklich ganz, ganz sicher. Also bekam sie die Cornflakes. Wenig später saß sie dann todunglücklich vor ihrer Schüssel und rührte sie nicht mehr an. Denn die fünfjährige nahe Verwandte, die ihr gegenübersaß, hatte ein Porridge bestellt und bekommen. Sie wollte nun auch Porridge.

Im moralischen Dilemma zwischen potenzieller Lebensmittelverschwendung (Cornflakes) und Enttäuschung wählte ich die hartherzige Option. Es flossen Tränen. Ich fühlte mich so schlecht wie Tassilo Wallentin in diesem ZiB2-Interview, es spielten sich dann absurde Szenen ab, gegen die selbst die TikTok-Videos von Gerald Grosz würdevoll wirkten. Ich persönlich finde es also gut, wenn dreijährige Menschen am Sonntag noch nicht den Bundespräsidenten wählen dürfen. Viele von ihnen sind zu impulsiv, zu unerfahren, können den Wahlzettel nicht richtig lesen. Gleichzeitig halte ich es für ein riesiges Problem.

Das Durchschnittsalter liegt in Österreich bei 43,2 Jahren. Es gibt in Österreich etwa gleich viele Unter-20-Jährige (1,73 Millionen) wie Über-65-Jährige (1,75 Millionen). Vor einem halben Jahr sprach Sebastian Helgenberger vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam beim Symposion Dürnstein über Generationengerechtigkeit. Er warf in seinem Vortrag einige Fakten an die Wand. Bei der letzten Nationalratswahl hatten Menschen über 70 Jahre in Österreich vier Mal so viel Stimmgewicht wie Menschen unter 20 Jahren.

"Diejenigen, die der Klimawandel hart treffen wird, sind bei politischen Entscheidungen in der Minderheit", hielt Helgenberger fest und sprach von einer "großen Repräsentationslücke". Dann präsentierte er diese für Eltern sehr aufrüttelnde Grafik, die auf einen Blick zeigt, worum es eigentlich geht: Alte Menschen mögen die ersten Auswirkungen der Klimakrise zwar schon spüren, aber wenn im Klimaschutz nichts weitergeht, wird sie die Zukunft unserer Kinder dominieren.

Sie steuern in ihrem Leben auf eine 2,5 Grad heißere Welt zu. Wie gravierend der Unterschied zwischen 1,5 Grad und 2 Grad ist, hat der Weltklimarat untersucht (eine Übersicht hat der WWF hier erstellt). Dabei bleibt es nicht. Mit jedem Zehntelgrad steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kipppunkte eintreten, die die Lage massiv verschärfen können.

Will man Wahlen gewinnen, kann man das als Politiker:in weitgehend ignorieren. Denn die Wahlen entscheiden die Alten. Im Zweifel kündigt man als Politiker:in lieber eine saftige Pensionserhöhung an, als drastische Maßnahmen für den Klimaschutz zu fordern. Wie unterschiedlich Alte und Junge wählen, geht aus dieser Wahltagsbefragung des Sora-Instituts und des Instituts für Strategieanalysen hervor: Bei der letzten Nationalratswahl hätten die ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ bei Senior:innen gemeinsam 74 Prozent geschafft. Bei den Unter-30-Jährigen wären es zusammengenommen nur 41 gewesen.

Wie kann man die Politik auf die Probleme der Jugend polen? Wie lässt sich diese Altersdiskriminierung überbrücken? Es gibt radikale Vorschläge. Das Wahlalter allein abzusenken würde nicht reichen. "Damit die unter 40-Jährigen die Mehrheit hätten, müsste zusätzlich ein maximales Wahlalter von 70 Jahren eingeführt werden", erklärt Helgenberger. Die FDP in Deutschland forderte wiederum bereits 2008, Kindern das Wahlrecht zu geben. Bis zur Volljährigkeit sollten die Eltern treuhänderisch das Wahlrecht wahrnehmen dürfen.

Helgenberger plädiert hingegen für einen Generationenvertrag - ähnlich wie bei den Pensionen. Dort zahlen die Jüngeren für die Älteren – und vertrauen darauf, dass, wenn sie mal alt ist, die nachfolgende Generation dasselbe macht. Analog dazu sollte es einen Klimagenerationenvertrag geben: Ältere Generationen sollten sich dazu verpflichten, mit ihren Handlungen und Entscheidungen den nachkommenden Generationen "ein freies und selbstbestimmtes Leben in einem sicheren Klima" zu ermöglichen. Die junge Generation soll in die Entscheidungen miteingebunden werden. Das alles solle den sozialen Frieden zwischen den Generationen sichern.

Denn was passiert, wenn sich junge Menschen nicht repräsentiert fühlen, aber eine Menge verändern wollen, sehe man derzeit an den zunehmenden Straßenblockaden von Klimaaktivist:innen, sagte Helgenberger. "Es wird deutlich radikaler."

Benedikt Narodoslawsky

PS: Wenn Ihnen der FALTER.natur-Newsletter gefällt, können Sie alle bisherigen Ausgaben auf www.falter.at/natur kostenlos nachlesen. Sollten Sie Menschen kennen, die das alles auch ganz ok finden würden, freuen wir uns, wenn Sie den Newsletter an sie weiterleiten, ihn auf Social Media teilen oder ihn Ihren besten Freund:innen am Telefon vorlesen. Rufen Sie sie doch wieder mal an!

Anzeige

Kreativer Schaffensraum im Grünen

Oberösterreichs Tagungslandschaft liegt inmitten intakter Natur. Bewahren wir sie auch bei Veranstaltungen. Sie möchten Ihr nächstes Event nachhaltig gestalten? Das Convention Bureau informiert und unterstützt Sie dabei.


Daten zur Klimakrise

Vergangene Woche habe ich Sie im Newsletter auf das Klimadashboard hingewiesen, das drei Klimaaktivisten gründeten, um Fakten zur Klimakrise in Österreich übersichtlich darzustellen. Nun hat auch das Umweltbundesamt nachgezogen und sein eigenes Klimadashboard herausgebracht. Es greift auf die eigenen Daten sowie auf Temperaturdaten der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) und der World Meteorological Organization (WMO) zurück. Das neue Ding gibt's hier.

Anzeige

Mit den neuen flexiblen Tickets – 7 Tage WIEN und 31 Tage WIEN – kannst du selbst bestimmen, wann deine Woche oder dein Monat beginnen. Einfach unseren WienMobil Ticketshop (App und Web) besuchen und dort ganz bequem und digital dein neues Ticket holen.


Aus dem Falter

Katharina Kropshofer hat mit dem dänischen Filmemacher Lars Ostenfeld gesprochen, der für die neue Doku "Into the Ice" mit drei Gletscherforscher:innen in die Tiefen des Grönländischen Eisschilds vordrang. Das ewige Eis höre sich so an "wie die Nadel eines krachenden Plattenspielers", erzählt Ostenfeld. Wie ihn die Arbeit in der schmelzenden Eislandschaft verändert hat, lesen Sie hier.

Eine wichtige Stimme in der Klimadiskussion ist die größte österreichische Umweltorganisation Global 2000. Zum 40-Jahr-Jubiläum habe ich die NGO besucht, die seit ihrer Gründung die Umweltpolitik mitbeeinflusst – von saurem Regen über Atomkraft bis hin zu Gentechnik und Pestiziden. Mein Porträt von Global 2000, aus denen Spitzenpolitikerinnen wie Leonore Gewessler, Ulli Sima und Eva Glawischnig hervorgegangen sind, gibt's hier.

Was Sie sonst noch im FALTER lesen können: Peter Iwaniewicz plädiert in seiner Tierkolumne dafür, schön zu sprechen und Menschen nicht mit Tiernamen wie Esel oder Sau zu schmähen. Es geht nämlich auch anders. Im antiken Griechenland galt es als Kompliment, eine Frau als "die Kuhäugige" zu bezeichnen. Warum, erfahren Sie in Iwaniewiczs Kolumne.

Anzeige

Klima Aktion Oktober

Am 19.10. lädt die Akademie der bildenden Künste Wien von 10 bis 20 Uhr zum Aktionstag mit Diskussionsrunden, Kunst, Vorträgen und Workshops an den Wiener Schillerplatz. Der ganze Oktober steht an der Kunstuniversität im Zeichen der Nachhaltigkeit, des Selbstversuchs und des Austestens wo überall nachhaltigeres Arbeiten in den Arbeitsalltag an der Kunstuniversität implementiert werden kann.

Mehr auf akbild.ac.at


Aktiv werden

Wenn Sie gerade Zeit für schlechte Laune haben: Der Verein gegen Tierfabriken (VGT) hat am Mittwoch ein neues Aufdecker-Video veröffentlicht, das den qualvollen Rinder-Transport übers Meer dokumentiert. Es sind verstörende Bilder von Rindern aus Österreich und anderen EU-Ländern, die mit Gewalt aufs Schiff getrieben werden, auf dem sie dort tagelang unter katastrophalen Bedingungen ausharren müssen. Wie auch österreichische Kälber in den Libanon verschifft und dort qualvoll geschlachtet werden, hat Gerlinde Pölsler bereits vor zwei Jahren hier aufgeschrieben. Die Petition des VGT "Transporte stoppen" können Sie hier unterzeichnen.

Anzeige

Nachhaltiges Weltraumticket führt nach Linz

Machen Sie Ihr Bus- oder Zugticket zum Weltraumticket und landen auf dem Planeten Linz! Denn im Gegensatz zum Flug in ferne Galaxien kann ein Besuch von Linz schonend für die Umwelt sein. Und wird jetzt sogar belohnt! Tauschen Sie Ihr Öffi-Ticket beim Linz Tourismus gegen einen von 1000 Gutscheinen für Linz-Erlebnisse ein!

www.linztourismus.at/weltraumticket


Veranstaltungstipps

Ist für Sie Nachhaltigkeit ein Kaufkriterium? Dann könnte Sie die Wefair interessieren. Sie geht von heute bis Sonntag im Design Center in Linz über die Bühne. Ausstellen darf dort nur, wer bestimmte Nachhaltigkeits-Prüfkriterien erfüllt. Neben Waren (Lebensmittel, Kleidung, Kosmetik, Haushaltssachen...) gibt's auch ein Rahmenprogramm mit Vorträgen und Diskussionen zur Nachhaltigkeit. Alle Infos finden Sie hier.

Warum viele Arbeiter die Klimabewegung "als Bedrohung" sehen, aber sich zugleich die Fridays mit der Gewerkschaft solidarisiert, erklärt der deutsche Arbeitssoziologe Klaus Dörre im Interview mit Barbara Tóth. Dörre ist am Donnerstag, dem 13. Oktober, zu Gast beim Wiener Stadtgespräch, das der FALTER mit der Wiener AK organisiert. Thema: "Die Utopie des Sozialismus". Zur Anmeldung und zu Infos über die Veranstaltung geht's hier lang.

Stichwort Utopie: Wie könnte der ökologische Umbau unserer Städte gelingen? Bis Sonntag denken kluge Menschen beim Wiener urbanize-Festival darüber nach und zeigen Beispiele, wo die Utopie bereits ein Stück weit Wirklichkeit wurde. Das Festival kreist um die Themen Stadtplanung, Supergrätzl und Asphalt-Empowerment. Maik Novotny erklärt Ihnen im FALTER, was man darunter versteht.

Anzeige

Geschichten, Spaß und Motivation

Erhalten Sie jeden Tag eine kurze, humorvolle Lektion per Mail. Spannende Geschichten mit viel Humor und Kultur warten auf Sie. Der Inhalt wird persönlich für Sie zusammengestellt. Damit Sie nur lernen, was Sie wirklich brauchen. Sichern Sie sich jetzt 1 Monat gratis unserer hochwertigen Online-Sprachkurse - ohne automatische Verlängerung.


Naturschutz

Vergangene Woche veröffentlichte Birdlife den ernüchternden Bericht über den weltweiten Zustand der Vögel. Demnach sinken die Bestände von beinahe der Hälfte aller Vogelarten. Nur sechs
Prozent der Arten legten zu. Die Schuld sieht Birdlife im Lebensraumverlust der Vögel, in der Landwirtschaft, die der Mensch intensiviert und in der Klimakrise.

Sollten Sie einen Garten haben, können Sie den Vögeln im Herbst helfen. Birdlife rät zur Unordnung und empfiehlt, "wilde Ecken" wachsen zu lassen. Vor dem Frost können Sie vogelfreundliche Gehölze wie Heckenrose, Weißdorn, Schlehe, Berberitze pflanzen, die Nahrung und Brutplätze liefern. Die Vögel freuen sich über Wildkräuter und Wildblumen, Samenstände sollten Sie also stehen lassen. Und falls Sie eine Ausrede brauchen, um das Laub nicht rechen zu müssen: Den Vögeln nützt es, wenn die gefallenen Blätter unter Sträuchern, in Staudenbeeten, in nährstoffreichen Wiesen und Randbereichen liegen bleiben. Alle Tipps der Vogelschutzorganisation gibt's hier.


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.natur-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!